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Already layed Stumbling Stones



Carl Meyer als junger Mann
Carl Meyer als junger Mann
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Carl Meyer * 1903

Hegestraße 46 (Hamburg-Nord, Hoheluft-Ost)


HIER WOHNTE
CARL MEYER
JG. 1903
EINGEWIESEN 1907
ALSTERDORFER ANSTALTEN
´VERLEGT` 7.8.1943
HEILANSTALT EICHBERG
´HEILANSTALT`HADAMAR
ERMORDET 8.10.1944

Carl Paul Emil Meyer, geb. am 26.7.1903 in Hamburg, aufgenommen am 11.5.1907 in die Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf), über mehrere Anstalten weiterverlegt in die Landesheilanstalt Hadamar bei Limburg a.d. Lahn, dort gestorben am 8.10.1944

Hegestraße 46 (Hoheluft-Ost)

Carl Paul Emil Meyer wurde am 26. Juli 1903 in der Wohnung seiner Eltern in der Hegestraße 46, damals Stadtteil Eppendorf, heute Hoheluft-Ost in Hamburg, geboren. Seine Eltern, der Briefträger und spätere Postassistent Julius Friedrich August Meyer und seine Ehefrau Henriette Dorothea, geb. Jansen, hatten am 25. März 1897 in der damals noch selbstständigen preußischen Stadt Altona geheiratet.

Zu der Familie gehörten weitere vier Geschwister: Theodor Ludwig Carl Meyer, geboren am 29. November 1898, Anna Auguste Wilhelmine Meyer, geboren am 25. Oktober 1899, Julius Heinrich Ferdinand Meyer, geboren am 24. Oktober 1901. Das vierte Geschwister, über das wir Näheres nicht wissen, dürfte nach Carl Meyer geboren worden sein.

Carl Meyer wurde im Mai 1907 durch die Allgemeine Armenanstalt Hamburg wegen "Idiotie" (damals eine Bezeichnung für eine schwere Form der Intelligenzminderung), in die Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) eingewiesen. In der Begründung der Armenanstalt hieß es, "das Kind schreit nach Angaben der Mutter seit der Geburt martialisch unmotiviert". Behandlungen in einer Poliklinik seien erfolglos geblieben. Zeitweilig soll das Kind sich mit den Händen gegen den Kopf geschlagen haben. Bei seiner Aufnahme in den Alsterdorfer Anstalten konnte der vier Jahre alte Junge nicht sprechen. Er äußerte laut Krankenakte weder Zuneigung noch Abneigung und reagierte auch nicht auf seine Mutter.

Carl Meyer musste während seiner Zeit in Alsterdorf oft auf der Krankenstation behandelt werden. Er litt wiederholt an Ekzemen und Keratitis (Entzündung der Hornhaut des Auges). In den Berichten über Aufenthalte in der Krankenstation bzw. im Krankenhaus wurden Kratzstellen, Entzündungen der Mundschleimhaut, Grippe, Krätze und Angina erwähnt. Im März 1908 wurde eine Entzündung der Knochenhaut festgestellt, die im August geheilt schien, aber im Dezember 1908 wieder auftrat und bis zum Juni 1909 anhielt. Im Februar 1909 entwickelte sich erneut ein Abszess, diesmal am linken Ellenbogen, dem mit einer Amputation des Ellenbogengelenks begegnet werden sollte. Offensichtlich war es aber damit nicht getan, denn letztlich wurde Carls linker Arm amputiert. Die Keratitis trat auch in den Folgejahren immer wieder auf und führte zu einer dauerhaften Beeinträchtigung der Sehkraft.

Der acht Jahre alte Carl Meyer besuchte ab Juni 1911 die Heimschule der Alsterdorfer Anstalten. Seine Krankenakte enthält ab Ostern 1912 ausführliche, von Empathie getragene Berichte der Lehrerin, die seinen Vornamen entgegen der korrekten Schreibweise immer mit K schrieb: "Karl ist seinem Alter gemäß entwickelt. […] Seine Sprache [ist] recht undeutlich und unverständlich. Sein linker Arm ist amputiert. Karl zeigt starken Bewegungs- und Spieltrieb. Er ist leicht aufgeregt. Eine kleine Bemerkung der Mitschüler kann ihn so aus der Fassung bringen, dass er sich kratzt und schlägt. Er besitzt viel Mitgefühl. Von Eltern und Geschwistern erwähnt er fast nichts. Karl mag gern an die Kameraden etwas abgeben. Er hat Rechtsbewusstsein und Pflichtgefühl. Das Gelingen seiner Arbeit versetzt ihn in laut ausbrechende Freude. In den Anschauungs- und Zeichenstunden zeigt Karl große, unwillkürliche Aufmerksamkeit. Mitunter ist er schon durch ein Wort, mitunter überhaupt nicht zur willkürlichen Aufmerksamkeit zu zwingen. Dieselbe bedarf häufiger Ermunterungen, da K. sehr schwer seine Gedanken konzentrieren kann. Er erfasst Wortvorstellungen sehr schwer u. vergißt sie leicht wieder. Sachvorstellungen kann er recht gut behalten. Trotz seiner mangelhaften Sprache mag er kleine Geschichten wiedererzählen. Aus der Wiedergabe spricht wenig Phantasie. K. kann sich in den Anschauungsstunden sehr schlecht äußern. Seine Psyche ist so arm, dass er für manche seiner Gedanken keine Worte findet und dann mit der Frage antwortet. Er kennt u. benennt Farben und Formen. Seine Zeichnungen und modellierten Gegenstände zeugen von großer Beobachtungsgabe. Alle Handfertigkeiten fertigt er langsam verhältnismäßig recht gut an. Karl hat das Klassenziel erreicht. Gez. Hertha Vollbom, Klassenlehrerin".

Im September 1912 schrieb die Lehrerin: "Karl ist sehr kurzsichtig. Sein Wortschatz hat sich bedeutend erweitert." […] Auf Fragen antwortet er ungern. Er erzählt lieber alles, was er vom besprochenen Gegenstand weiß. K. betrachtet sich den Gegenstand sehr genau, dann modelliert er. Tiere kann er besonders gut darstellen. Er zeichnet mit viel Ausdauer und Genauigkeit. K. kann kleine Sätze in Schreibschrift in seiner Aussprache lesen. Er schreibt die Buchstabenformen gut, aber viel zu dick. Rechnen kann er nicht. Ihm fehlen die Zahlenbegriffe. Er singt gut, nur unverständlich."

Als er elf Jahre alt war, schrieb die Lehrerin: "Karl ist ein liebebedürftiger recht freundlicher Junge. Er scheint recht ängstlich und verschüchtert, was sich besonders zeigt, wenn man zu ihm herantritt, oder K. soll vorkommen; dann hält er schon von weitem seinen Arm schützend vor sein Gesicht, wie, um einen Schlag abzuwehren. Er ist aufgeregt und nervös, bleibt man jedoch stets freundlich zu ihm, verliert sich seine Ängstlichkeit und er zeigt seine Dankbarkeit durch zaghaft hervortretende Zärtlichkeit. Mitunter fängt K. mitten im Unterricht an zu weinen, auf Befragen meinerseits, zeigt er auf seinen l.[inken] amputierten Arm und sagt, muß weinen, hab bloß einen Arm. Karl erzählt gerne und häufig von seinem Vater. Eine halbgefertigte Arbeit bringt ihn in freudige Aufregung, als wenn er ein Bilderbuch oder Ähnliches geschenkt bekommt. K. springt dann öfter wie ein kleiner Gummiball in die Luft: er ist nach solcher Freude doppelt zugänglich."

Carl Meyers Eltern versuchten den Kontakt zu ihrem Sohn aufrecht zu erhalten. Zwischen 1910 und 1925 finden sich in der Krankenakte wiederholt Eintragungen über Beurlaubungen zu den Eltern.

Im Oktober 1924 wurde er als sauber, verträglich und gutmütig charakterisiert. Seine Lieblingsarbeit sei das Putzen von Messingteilen gewesen.

1932 entwich Carl Meyer aus der Anstalt, nachdem Tadel bei ihm schwere Erregungszustände ausgelöst hatten. Er wurde zurück gebracht.

Später soll seine Hauptbeschäftigung darin bestanden haben, das Anstaltsgelände von Abfallpapier zu reinigen. Wiederholt hieß es, dass Carl Meyer auch Kupfer und Münzen sammele, die er blank putze. Autos, die auf das Anstaltsgelände fuhren, hätten seine volle Aufmerksamkeit erregt und er habe dann deren Kühlerhauben geputzt.

Über therapeutische Maßnahmen finden sich keine Berichte in seiner Krankenakte, so dass zu vermuten ist, dass nur wenige oder keine ergriffen wurden. Dafür spricht auch, dass Carl Meyer im März 1935 in das "Stadtheim" verlegt wurde. Diese Erziehungsanstalt für Knaben war nur durch die Bodelschwingstraße von den Alsterdorfer Anstalten getrennt. Die Anstalten pachteten sie von der Stadt Hamburg und belegten sie ab 1934 mit wenig betreuungsbedürftigen männlichen Bewohnern.

Der Anstaltsarzt, SA-Mitglied Gerhard Kreyenberg, fasste Carl Meyers Zustand im April 1936 gegenüber den Behörden wie folgt zusammen: "Patient leidet an angeborenem Schwachsinn mittleren Grades. Er kann weder lesen noch schreiben, dagegen ganz nette Zeichnungen von technischen Gegenständen anfertigen. Er fügt sich leidlich der Hausordnung, kann aber auch zeitweise heftig erregt werden, besonders, wenn er getadelt wird. Eine regelrechte Arbeit verrichtet er nicht, ist auch infolge des amputierten linken Armes dazu nicht recht zu gebrauchen, doch sucht er sich überall Beschäftigung, mit Vorliebe Putzen von Wasserhähnen, Türklinken und dergl. Das Sehvermögen ist infolge bds. Hornhauttrübung erheblich beeinträchtigt. Weiterer Anstaltsaufenthalt ist erforderlich. gez. Dr. Kreyenberg".

Auch in den Folgejahren äußerte sich Kreyenberg in diesem Sinne, er verstärkte dabei die negativen Aspekte: "zeitweise kann er […] in Erregung geraten wobei er dann in gemeinen Ausdrücken stundenlang vor sich hin pöbelt. Bezügl. Kleidung und Körperpflege bedarf er strenger Beaufsichtigung, da er an sich sehr unsauber ist".

Carl Meyers Zeit in den Alsterdorfer Anstalten endete am 7. August 1943. Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg im Sommer 1943 (Operation Gomorrha) erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten in der Nacht vom 29./30. Juli 1943 und dann noch einmal vom 3./4. August 1943 Schäden. Der Anstaltsleiter, SA-Mitglied Pastor Friedrich Lensch, bat die Gesundheitsbehörde um Zustimmung zur Verlegung von 750 Patientinnen und Patienten, angeblich um Platz für Verwundete und Bombengeschädigte zu schaffen. Mit drei Transporten zwischen dem 7. und dem 16. August wurden insgesamt 468 Mädchen und Frauen, Jungen und Männer in die "Landesheilanstalt Eichberg" in der Nähe von Eltville am Rhein, in die "Heil- und Pflegeanstalt Kalmenhof" in Idstein im Rheingau, in die "Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen" bei Passau und in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") verlegt.

Carl Meyer gehörte zu den 76 Kindern und Männern, die am 7. August 1943 zusammen mit 78 Männern aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn in die "Landesheilanstalt Eichberg" gebracht wurden. Die letzte Eintragung in seiner Krankenakte datiert vom 7. August 1943: "Wegen schwerer Beschädigung der Anstalt durch Fliegerangriff verlegt nach Eichberg."

Die Landesheilanstalt Eichberg war während der ersten Phase der NS-"Euthanasie" bis August 1941 eine der Zwischenanstalten für die Tötungsanstalt Hadamar. Nach dem offiziellen Stopp des "Euthanasie-Programms" im August 1941 wurde in Eichberg selbst weiter gemordet, und zwar durch systematische Unterernährung und überdosierte Medikamente, verbunden mit pflegerischer Vernachlässigung.

Die Zentralverrechnungsstelle der Heil- und Pflegeanstalten, Berlin, Tiergartenstraße 4, ein Teilbereich der NS-"Euthanasie"-Organisation, informierte die Alsterdorfer Anstalten mit Schreiben vom 29. Februar 1944 darüber, dass Carl Meyer sich nun in der Landesheilanstalt Weilmünster befinde. Er war dorthin am 13. Oktober 1943 und am 2. Oktober 1944 weiter in die Landesheil- und Pflegeanstalt Hadamar im Kreis Limburg verlegt worden.

Die Anstalt Hadamar war eine der sechs berüchtigten Mordanstalten, in denen Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung bis Ende August 1941 durch Kohlenmonoxid ermordet wurden. Auch danach wurden hier Menschen getötet, nun nicht mehr mit Gas sondern durch überdosierte Medikamente, gezielte Mangelernährung und unterlassene medizinische Versorgung. In Hadamar wurden Menschen getötet, die für die Weiterführung des Krieges und innerhalb der NS-Ideologie zunehmend als "Ballast" gebrandmarkt waren. Nach der Aufnahme in Hadamar waren die Überlebenschancen verschwindend gering. Nur in Ausnahmefällen überlebten die Menschen länger als ein paar Wochen oder Monate. Ein Auswahlkriterium für den Zeitpunkt der Ermordung war die noch vorhandene Arbeitsfähigkeit der Menschen, die bei Carl Meyer nicht vorhanden war.

Sechs Tage nach der Ankunft in Hadamar starb er am 8. Oktober 1944 an "Idiotie, Darmgrippe", so der Eintrag in der Sterbeurkunde.

Der Stolperstein erinnert vor dem ehemaligen Wohnhaus seiner Eltern in der Hegestraße an ihn, wo er die ersten Jahre seines Lebens verbrachte.

© Ingo Wille

Quellen: Adressbuch Hamburg 1903, StaH 332-5 Standesämter 13090 Geburtsregister Nr. 2189/1899 (Anna Auguste Wilhelmine Meyer), 13459 Geburtsregister Nr. 1108/1900 (Fritz Gustav Richard Meyer), 13618 Geburtsregister Nr. 2533/1898 (Theodor Ludwig Carl Meyer), 14008 Geburtsregister Nr. 1999/1903 (Carl Paul Emil Meyer), 5940 Heiratsregister Nr. 215/1897 (Julius Friedrich August Meyer; Henriette Dorothea Jansen); Standesamt Hadamar, Sterberegister Nr. 1509/1944 (Karl Paul Emil Meyer); Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, Sonderakte V 125 (Meyer Carl); Briefe und Bilder aus Alsterdorf, Jahrgang 1934, S. 6; Auskunft der Gedenkstätte Hadamar per email vom 29.4.2024 über Carl Meyers Aufenthalt in Weilmünster und Hadamar. Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 35, 283 ff., 299 ff., Regina Marien-Lunderup, Die Anstalten Eichberg und Weilmünster, in: Peter von Rönn u.a., Wege in den Tod, Hamburgs Anstalt Langenhorn und die Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S. 311 ff.

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