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Already layed Stumbling Stones



Alice Lüder
Alice Lüder
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Alice Lüder * 1901

Jarrestraße 54 (Hamburg-Nord, Winterhude)


HIER WOHNTE
ALICE LÜDER
JG. 1901
EINGEWIESEN 1909
ALSTERDORFER ANSTALTEN
´VERLEGT` 16.8.1943
HEILANSTALT
AM STEINHOF / WIEN
TOT AN DEN FOLGEN
23. OKT. 1945

Alice Lüder, geb. am 19.1.1901 in Hamburg, aufgenommen in den damaligen Alsterdorfer Anstalten am 1.2.1909, verlegt in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg am 5.8.1925, erneut aufgenommen in den Alsterdorfer Anstalten am 29.3.1935, am 16.8.1943 abtransportiert nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien", dort gestorben am 23.10.1945

Jarrestraße 54, Winterhude

Alice Lüder wurde am 19. Januar 1901 im Krankenhaus Eppendorf geboren. Sie hieß zunächst Sontheim wie ihre Mutter, die Arbeiterin Emma Elisabeth Alice Sontheim, die am 8. September 1878 in der damals noch selbstständigen preußischen Stadt Wandsbek zur Welt gekommen war. Walter Mexter, Alices leiblicher Vater, soll mexikanischer Herkunft gewesen und an Malaria gestorben sein. Näheres über ihn wissen wir nicht.

Emma Sontheim heiratete am 26. November 1903 den Kutscher und späteren Kohlenarbeiter Carl Friedrich Wilhelm Lüder, geboren am 20. Juni 1880 in Hamburg. Er adoptierte am 28. Januar 1904 die kleine Alice, die dadurch den Nachnamen Lüder erhielt.

Emma und Carl Lüder sollen zusammen sechs Kinder gehabt haben, von denen zwei früh an "Lebensschwäche" starben. Weiteres ist uns nicht bekannt.

Alice Lüder lebte in den ersten Lebensjahren bei ihren Eltern in der Jarrestraße 54 in Hamburg-Winterhude. Sie lernte erst im Alter von fünf Jahren zu sprechen und zu gehen. Am 1. Februar 1909 wurde sie mit der Diagnose "Idiotie" in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) aufgenommen. ("Idiotie" ist ein veralteter Begriff für eine schwere Form der Intelligenzminderung.)

Bei der Aufnahme in den Alsterdorfer Anstalten wurde sie wegen ihrer braunen Hautfarbe als "Mulattentypus" bezeichnet. Ihre Sprache galt als "niedlich". Es hieß, sie spiele gern, kenne kleine Gedichte auswendig und leiste kleine Handreichungen. Die Lehrerin der Anstaltsschule beschrieb ihr Betragen als ziemlich gut. Sie habe recht lebhaft am Unterricht teilgenommen, doch ihr Denkvermögen sei sehr schwach, das Gedächtnis hingegen ziemlich gut. Farben habe sie unterscheiden und auch richtig benennen können. Auf ihre braune Hautfarbe sei sie stolz gewesen. Sie sei dem Unterricht mit größerem Interesse gefolgt. Im Rechnen, Schreiben, Lesen habe sie aber keine Fortschritte gemacht.

In den Jahren 1911 und 1912 durfte Alice mehrmals auf Urlaub zu ihren Eltern.

Für die Unterbringung in den Alsterdorfer Anstalten musste das Hamburger Wohlfahrtsamt aufkommen. Deshalb war es daran interessiert, die Zahlungen zu beenden oder zu verringern. Auf eine Nachfrage des Wohlfahrtsamtes im Juli 1923, ob Alice Lüder aus der Anstalt entlassen oder an das Versorgungheim [mit niedrigeren Kostensätzen] überführt werden könne, entgegnete die Anstalt: "Auf die gefällige Anfrage vom zehnten des Monats erwidern wir ergebenst, dass Alice Lüder ein gutartiges Mädchen ist, dass geistig auf der Stufe eines vierjährigen Kindes steht. Sie kann sich nicht anziehen, sich nicht waschen und kämmen, ihr Gang ist durch frühere operative Eingriffe erschwert." Im April 1924 wiederholte das Wohlfahrtsamt seine Anfrage und erhielt aus Alsterdorf erneut eine ablehnende Antwort.

Im September 1924 allerdings, so die Krankenakte, habe Alice Lüder sich sehr zurückgezogen verhalten, Kleider zerrissen und hatte kein Interesse für ihre Umgebung gezeigt. Mit der Begründung, "häufig erregt, zeigt lebhaften Rede- u. Bewegungsdrang sowie Zerstörungstrieb, kneift, stößt und quält ihre Mitpatientinnen" wurde Alice Lüder für die Alsterdorfer Anstalten als nicht mehr geeignet beurteilt und am 5. August 1925 in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg verlegt.

Alice Lüders Adoptivvater erhielt folgende distanzierte und geschäftsmäßige Mitteilung: "Wir müssen Ihnen leider mitteilen, daß Ihre Tochter Alice wegen ihrer häufigen Erregungszustände, in denen sie Zerstörungstrieb zeigt und ihre Mitzöglinge kneift, stößt und quält, für unsere Anstalten nicht mehr geeignet ist. Unser Oberarzt hat deshalb ihre Überführung nach der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg, die heute stattgefunden hat, angeordnet. Hochachtungsvoll Die Direktion"

Auch in einer Zusammenfassung der Krankengeschichte durch die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg findet sich im Aufnahmebefund die in diesem Zusammenhang unnötige Notiz "Mulattische Haut- u. Haarfarbe". Ihr Verhalten sei wechselnd gewesen, zeitweise sehr laut und kaum zu beruhigen, dann wieder nicht ansprechbar, strahlend heiter, zu kindischen Neckereien aufgelegt. Ihr Benehmen könne man als schwachsinnig, fast verschlagen bezeichnen. Alice Lüder wurde in Friedrichsberg als zeitweise stuporös, d.h. ohne erkennbare psychische und physische Aktivität, bezeichnet.

Alice Lüders Aufenthalt in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg endete am 29. März 1935. An diesem Tag wurde sie zum zweiten Mal Patientin der Alsterdorfer Anstalten. Gründe für die Verlegung von Friedrichsberg nach Alsterdorf sind nicht dokumentiert. Aufgrund von Krankengeschichten anderer Personen lässt sich vermuten, dass nun für Alice Lüder in Friedrichsberg keine therapeutischen Möglichkeiten mehr gesehen wurden.

Zurück in Alsterdorf wurde sie als "immer fröhlich und guter Dinge" wahrgenommen. Sie machte "gern kleine Hilfeleistungen und kleine Laufwege. Sie hält sich alleine sauber. Hat große Freude an schönen Haarschleifen und dergleichen Dingen". Offenbar war sie sehr kontaktfreudig und knüpfte Unterhaltungen an mit Fragen wie: "Magst du mich gern?" "Bin ich nicht hübsch?" 1938/1939 verlor sich ihre bisherige Freundlichkeit. Sie soll "sehr frech und ungezogen" geworden sein, "furchtbare Schimpfworte" verwendet haben. Einmal riss sie im Schlafsaal die Verdunkelung ab und stieß mit ihrem Kopf gegen eine Fensterscheibe, so dass diese zersprang. Weil sie durch ihr Verhalten ihre Abteilung "verdarb", musste sie sich im Wachsaal und im Isolierraum aufhalten.

"Wachsäle" gab es bereits in den 1910er Jahren. Dort wurden unruhige Kranke isoliert und mit Dauerbädern, Schlaf- sowie Fieberkuren behandelt. In den Alsterdorfer Anstalten wurden sie Ende der 1920er Jahre eingeführt. Im Laufe der 1930er Jahre wandelte sich deren Funktion: Nun wurden hier Patientinnen und Patienten vor allem ruhiggestellt, teils mit Medikamenten, teils mittels Fixierungen oder anderer Maßnahmen. Die Betroffenen empfanden dies oft als Strafe.

Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Der Anstaltsleiter, SA-Mitglied Pastor Friedrich Lensch, nutzte die Gelegenheit, sich mit Zustimmung der Gesundheitsbehörde eines Teils der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, durch Abtransporte in andere Heil- und Pflegeanstalten zu entledigen. Mit einem dieser Transporte wurden am 16. August 1943 228 Frauen und Mädchen aus Alsterdorf sowie 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") in Wien "verlegt". Unter ihnen befand sich Alice Lüder.

In Wien erzählte Alice Lüder während des Aufnahmegespräches, sie habe in Hamburg Kartoffeln geschält und wolle in Wien bleiben. Ihre Diagnose lautete hier: Imbezillität, Erblichkeit. (Imbezillität ist ein nicht mehr gebräuchlicher Ausdruck für eine mittelgradige geistige Behinderung mit einem Intelligenzquotienten zwischen 20 und 49.)

Gegen Ende 1943 soll Alice Lüder nur mangelhaft orientiert gewesen sein. Ihr Gewicht, das bei der Aufnahme in Wien noch mit 47 kg angegeben worden war, betrug nun nur noch 37 kg. 1944 wurde in der Krankenakte in wenigen Einträgen festgehalten, ihr Zustand sei so wie im Jahr 1943 gewesen.

Obwohl Beeinträchtigungen ihres Gesundheitszustandes nicht vermerkt wurden, befand sich Alice Lüder ab 20. November 1944 im Pflegebereich der Anstalt. Mehr Bedeutung wurde dagegen ihrem Aussehen beigemessen. Im Juni 1945 findet sich in ihrer Krankenakte diese Notiz: "Aussehen weniger wie eine Mestize, eher mulattenhaft. Braune Hautfarbe, wulstige Lippen, platte Nase, angegrautes, schwarzes etwas geringeltes Haar, behauptet aber, eine ‚Stize‘ zu sein, lehnt die Bezeichnung ‚Mulattin‘ ab."

Wie schon früher wurde notiert, "im Tagraum, mangelhaft orientiert, ruhig und fügsam, ohne Beschäftigung, Schlaf und Appetit gut." Am 17. Oktober 1945 wurde dann Durchfall festgestellt, dessen Untersuchung jedoch keine Krankheitshinweise erbrachte. Wenige Tage später, am 23. Oktober 1945 starb Alice Lüder. Neben "Imbezillität" wurden als Todesursache zwei weitere Gründe angegeben, die nicht entziffert werden können.

Die Anstalt in Wien war während der ersten Phase der NS-"Euthanasie" vom Oktober 1939 bis August 1941 Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz. Nach dem offiziellen Ende der Morde in den Tötungsanstalten wurde in bisherigen Zwischenanstalten, also auch in der Wiener Anstalt selbst, massenhaft weiter gemordet: durch Überdosierung von Medikamenten und Nichtbehandlung von Krankheit, vor allem aber durch Nahrungsentzug.

Bis Ende 1945 kamen von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg 257 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf.

© Ingo Wille

Quellen: StaH 332-5 Standesämter 3832 Geburtsregister Nr. 473 (Emma Elisabeth Alice Sontheim), 13613 Geburtsregister Nr. 201/1901 (Alice Sontheim/Lüder), 2999 Heiratsregister Nr. 985/1903 (Emma Elisabeth Alice Sontheim/ Carl Friedrich Wilhelm Lüder); Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, Sonderakte V 159 (Alice Lüder). Peter von Rönn, Der Transport nach Wien, in: Peter von Rönn u.a., Wege in den Tod, Hamburgs Anstalt Langenhorn und die Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S. 425 ff. Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 35, 283 ff., 331 ff.

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