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Bereits verlegte Stolpersteine



Anne Kahl
Anne Kahl
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Anne Kahl * 1922

Goebenstraße 10 (Eimsbüttel, Eimsbüttel)


HIER WOHNTE
ANNE KAHL
JG. 1922
EINGEWIESEN 1925
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 16.8.1943
AM STEINHOF WIEN
TOT 8.9.1945
URSACHE: FORTGESETZTE
MANGELERNÄHRUNG

Anne (Änne) Maria Erna Kahl, geb. 16.11.1922 in Hamburg, am 24.6.1925 aufgenommen in den Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf), am 16.8.1943 "verlegt" nach Wien in die Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien, dort gestorben am 8.9.1945

Goebenstraße 10 (Eimsbüttel)

Anne (Änne) Maria Erna Kahl kam am 16. November 1922 als 6 ½-Monats-Kind im Krankenhaus Hamburg-Eppendorf zur Welt. Sie blieb dort bis zum 7. Mai 1923, denn ihre Mutter nahm sie nicht zu sich. Deshalb gab das Krankenhaus Anne Kahl in "öffentliche Fürsorge". Wir wissen nicht, in welchem Heim Anna Kahl aufgenommen wurde.

Als Rufname des Mädchens wurde in fast allen offiziellen Dokumenten mit "Anne" angegeben, so auch in der Taufbescheinigung, obwohl die Mutter noch kurz vor der Taufe in einem Brief an die damaligen Alsterdorfer Anstalten verlangte, "dass meine Tochter nicht ‚Anne‘ sondern ‚Aenne Maria Erna‘ getauft wird, so wie auf dem Geburtsschein vermerkt ist." Die im Archiv der Evangelischen Stiftung Alsterdorf befindliche Patientenakte enthält einen Geburtsschein, auf dem der Rufname wegen der kaum sichtbaren Umlautpunkte sowohl als Änne als auch als Anne gelesen werden kann. Das Geburtsregister von 1922 ist noch nicht öffentlich zugänglich, so dass die richtige Namensschreibung offenbleiben muss. Das Mädchen wird hier wie auf dem Stolperstein zu seiner Erinnerung "Anne" genannt.

Hinter Anne Kahls Mutter, der am 3. Oktober 1903 in Hamburg geborenen Anna Maria Dorothea Kahl, lag eine schwere Kindheit und Jugend. Zwischen ihr und ihrer Mutter Caroline Dorothea Johanna Kahl, die seit 1907 mit dem Malergehilfen Paul Johannes Gottlieb Franz Senst verheiratet war und mit ihm zwei Kinder hatte, bestand kein Kontakt. Anna Maria Dorothea Kahl war von den Großeltern aufgezogen worden. Ihrer eigenen Erzählung zufolge lebte sie ab dem 16. Lebensjahr zwei Jahre lang in "Zwangserziehung" im Waisenhaus Hamburg.

Anna Maria Dorothea Kahl sah sich - nach ihren Worten - nicht in der Lage, ihren Säugling zu sich zu nehmen, weil ihr dafür der Platz fehle und sie auch keine Pflegestelle gefunden habe. Bei der Geburt des Kindes war die ledige Frau 19 Jahre alt und absolvierte gerade eine Lehre. Der Ausbildungsberuf ist nicht bekannt.
Seit dem 8. Februar 1925 war sie arbeitslos und lebte von Erwerbslosenunterstützung. Als ihre Tochter Anne in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) aufgenommen wurde, arbeitete sie als Gummimäntel-Kleberin. Der leibliche Vater des Kindes, ein Hafenarbeiter, soll "dem Trunke ergeben" gewesen sein.

Als Anne Kahl in den Alsterdorfer Anstalten aufgenommen wurde, lebte ihre Mutter zur Untermiete in der Goebenstraße 10. Sie soll im August 1926 den Seemann Hans Carl Ernst Jungclaus, geboren am 4. Oktober 1898 in Altona, geheiratet haben. Ein entsprechender Heiratseintrag ist in den Hamburger und Altonaer Personenstandsregistern nicht enthalten, so dass die Eheschließung außerhalb Hamburgs stattgefunden haben könnte. An Anne Kahls Situation änderte die Heirat nichts.

Zur Begründung der Aufnahme Anne Kahls in den Alsterdorfer Anstalten wurde in einem ärztlichen Gutachten des Krankenhauses Eppendorf vom 18. Mai 1925 ausgeführt, das Mädchen sei ein in körperlicher und geistiger Entwicklung vollkommen zurückgebliebenes Kind. Trotz vieler Mühen der Schwestern habe es weder stehen noch laufen gelernt, könne auch mit Unterstützung kaum sitzen, spreche nicht, liege entweder "stumpf da" oder schreie Stunden hindurch ohne ersichtlichen Grund.

In den Alsterdorfer Anstalten erlebte man Anne Kahl laut den Einträgen in ihrer Krankenakte "ohne Sprache, völlig hilflos, einer dauernden Anstaltspflege bedürftig". Im Januar 1926 konnte sie angeblich stehen, aber weiterhin nicht sprechen. Gegenüber dem Jugendamt berichtete die Anstalt, Anne Kahl mache Fortschritte, sie sei willig und dienstbereit, lerne sich selbst zu waschen und zu kämmen und verrichte kleine Handarbeiten mit Eifer. Als "Veitstanz" bezeichnete unkontrollierbare Zuckungen würden sich bessern; nur bei plötzlichem Anruf "flögen die Glieder" (zitterte sie). Sie lerne auch, die Treppe ohne Hilfe zu gehen. Ihre Sprache sei schwerfällig, manchmal kaum verständlich. Sie lerne die lateinische Druckschrift lesen, rechne von 1-10.

Soweit aus Anne Kahls Krankenakte ersichtlich, erhielt sie nie Besuch. Nur einmal, im August 1929, scheint die Mutter einen Besuchswunsch geäußert zu haben, der ihr jedoch abgeschlagen wurde, weil Anna mit Scharlach erkrankt war.

Ab 1930 wurde wiederholt berichtet, dass Anne gern andere Kinder küsse und drücke. Sie wurde nun als lebhafter wahrgenommen, spreche viel, aber weiterhin unverständlich und leise, singe gern und summe vor sich hin.
Die Berichte über Anne schwankten und widersprachen sich zum Teil. Zum einen hieß es, sie sei ein munteres, fröhliches Kind, das spreche, singe und kaum stillsitzen könne. Sie sei sauber und fähig sich allein an- und auszukleiden. Zum anderen finden sich spätere Berichte, nach denen Anne sich immer noch nicht allein ankleiden könne, alles verdreht anziehe, sehr langsam allein esse und dazu immer wieder ermahnt werden müsse, dauernd sitze und träume, mit ihren Fingern in der Luftspiele und beim Gehen allerhand merkwürdige Bewegungen vollführe. Am Spiel der Patienten beteilige sie sich wenig. Sie reiße sich die Haarschleifen aus, verknote ihr Haar und reiße sich ganze Haarbüschel aus.
Im März 1937 notierte das Personal, "Patientin ist in der letzten Zeit lebhafter geworden, spricht alles nach, auch ganze Sätze", aber im Juni 1937: "Patientin spricht seit einigen Tagen nicht mehr, sie macht wohl den Mund auf, aber es kommt kein Laut heraus." Die beschriebenen Entwicklungsfort- bzw. -rückschritte setzten sich lt. Patientenakte in den nächsten Jahren in ähnlicher Weise fort.

Anne Kahls Aufenthalt in den Alsterdorfer Anstalten endete am 16. August 1943. An diesem Tag schrieb der Anstaltsarzt, SA-Mitglied Gerhard Kreyenberg, in Anne Kahls Akte: "Wegen schwerer Beschädigung der Anstalt durch Bombenangriff verlegt nach Wien."

Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Der Anstaltsleiter, SA-Mitglied Pastor Friedrich Lensch, nutzte die Gelegenheit, sich mit Zustimmung der Gesundheitsbehörde eines Teils der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, durch Abtransporte in andere Heil- und Pflegeanstalten zu entledigen. Mit einem dieser Transporte wurden am 16. August 1943 228 Frauen und Mädchen aus Alsterdorf sowie 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") "verlegt". Unter ihnen befand sich Anne Kahl.

Bei der Ankunft in der Wiener Anstalt wog Anne Kahl 43 kg. Sie war nach den Aufzeichnungen der dortigen Patientenakte bei der Aufnahme "ruhig. Kann nicht deutlich sprechen, stotternd, pflegebedürftig, rein, zugänglich." Diese Eintragungen wiederholten sich 1944. Als man lt. Krankenakte im Mai 1945 bei ihr Lungentuberkulose diagnostizierte, wurde sie in den Pavillon 19 verlegt, der als "Infektionspavillon" diente und damit auch als Ort eingeleiteten Sterbens. Dort soll sich Anne Kahl meist im Tagesraum aufgehalten haben bis sie im Juli 1945 "wegen Durchfall niedergelegt" wurde. Sie lag "ständig im Bett, [war] stark abgemagert und geschwächt, obwohl Pat.[ientin] relativ viel Nahrung zu sich nimmt". Das Gewicht hatte sich auf 31 kg im Juli 1945 vermindert. Anfang September 1945 wurde "langsamer Verfall" notiert.
Am 8. September 1945 trat bei Anne Kahl der Tod ein. Die dokumentierte Sterbeursache lautete: "Angeborener Schwachsinn (Idiotie), Marasmus, Inanition, Verdacht auf Lungentuberkulose". Marasmus ist eine schwere Erkrankung, die infolge einer chronischen Mangelernährung entsteht und zum Tode führt. Inanition bezeichnet einen Hungerzustand, entstanden durch völlige Entkräftung des Organismus infolge fehlender oder unzureichender bzw. fehlerhafter Ernährung.

Die Anstalt in Wien war während der ersten Phase der NS-"Euthanasie" vom Oktober 1939 bis August 1941 eine Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz gewesen. Nach dem offiziellen Ende der Morde in den Tötungsanstalten wurde in den bisherigen Zwischenanstalten, also auch in der Wiener Anstalt selbst, massenhaft weiter gemordet: durch Überdosierung von Medikamenten und Nichtbehandlung von Krankheit, vor allem aber durch Nahrungsentzug.
Bis Ende 1945 kamen von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg 257 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf.

Der Stolperstein zur Erinnerung an Anne Kahl wurde vor der Wohnadresse ihrer Mutter verlegt, obwohl Anne dort nie gelebt hat, sie verbrachte ihr kurzes Leben ausschließlich in Heimen und Anstalten.

Stand: Mai 2024
© Ingo Wille

Quellen: StaH 332-5 Standesämter 14010 Geburtsregister Nr. 2561/1903 (Anna Maria Dorothea Kahl), 8652 Heiratsregister Nr. 103/1907 (Caroline Dorothea Johanna Kahl/Paul Johannes Gottlieb Franz Senst); Evangelische Stiftung Alsterdorf Archiv Sonderakte V 186 (Anne Maria Erna Kahl). Peter von Rönn, Der Transport nach Wien, in: Peter von Rönn u.a., Wege in den Tod, Hamburgs Anstalt Langenhorn und die Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S. 425 ff.. Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 283 ff., 331 ff.

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