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Maria Bockentin
Maria Bockentin
© Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Hamburg

Maria Bockentin (geborene Theilen) * 1888

Rehmstraße 11 (Hamburg-Nord, Winterhude)


HIER WOHNTE
MARIA BOCKENTIN
GEB. THEILEN
JG. 1888
EINGEWIESEN 1935
RICKLINGER ANSTALTEN
‚VERLEGT‘ 25.11.1941
HEILANSTALT PFAFFERODE
ERMORDET 8.12.1943

Maria Caroline Auguste Bockentin, geb. Theilen, geb. am 13.1.1888 in Hamburg, vom 12.7.33 bis 3.6.1935 in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg eingewiesen, mehrfach verlegt, in der Landesheilanstalt Pfafferode in Mühlhausen/Thüringen, gestorben am 8.12.1943

Rehmstraße 11, Winterhude

Maria Caroline Auguste Bockentin, geborene Theilen, deren Rufname "Maria" lautete, kam am 13. Januar 1888 als Tochter der Plätterin Caroline Adolphine Theilen und deren Ehemann Heinrich Hermann Fredrick (Friedrich) Theilen in der Bartelsstraße 48 im damaligen Stadtteil St. Pauli (heute Sternschanze) zur Welt. Maria hatte eine Schwester, die am 6. Dezember 1889 geborene und am 18. Januar 1890 gestorbene Pauline Elise Alexandrine.

Maria Theilens Vater war Seemann. Ob er zum Zeitpunkt der Geburt der jüngeren Schwester oder des Todes seiner Ehefrau am 20. Dezember 1889 - kurz nach der Geburt von Pauline - am Leben war und wo er sich ggf. aufhielt, ist nicht bekannt. Maria lernte ihren Vater nie kennen.

Über Kindheit und Jugend von Maria Theilen wissen wir nur, dass sie die Volksschule bis zur Ersten Klasse besuchte (die Erste Klasse war damals die höchste).
Sie heiratete am 6. Juli 1909 den Fotografen Franz Bockentin, geboren am 25. Oktober 1874 in Dortmund. Beide wohnten zum Zeitpunkt der Heirat lt. Heiratsregisterauszug in der Armbruststraße 1 im Stadtteil St. Pauli (heute Eimsbüttel).

Franz Bockentin war im Hamburger Adressbuch erstmals in der Ausgabe von 1928 zu finden, und zwar als "Heildiener" mit der Adresse Hudtwalckerstraße 29 in Winterhude. Die nicht mehr gebräuchliche Berufsbezeichnung Heildiener wird im Duden als Gehilfe eines Chirurgen erklärt.

Das Ehepaar Bockentin bekam vier Kinder: John Franz Gustav, geboren am 10. August 1910, Hubert (Herbert) Julius Karl, geboren am 15. Februar 1913, Ottilie Anna Sophie, geboren am 20. Juli 1923, und Helga Martha, geboren am 12. Dezember 1928.

Über die Entwicklung dieser Kinder ist uns nichts bekannt, außer dass Ottilie Anna Sophie und Helga Martha 1932 in Pflegefamilien gelebt haben sollen.

Maria Bockentin wohnte mit ihrer Familie in der Rehmstraße 11 in Winterhude, als sie am 30. Mai 1933 als Patientin im Allgemeinen Krankenhaus Eppendorf aufgenommen wurde. Hier wurde sie als sehr unruhig wahrgenommen, sie sei nicht im Bett geblieben, habe auf Fragen nicht geantwortet und stereotype Aussprüche mit sexuellem Inhalt wiederholt.
Auf Wunsch ihres Ehemannes, der inzwischen als Krankenpfleger tätig war, wurde bei ihr die Malariakur angewandt. Diese Behandlung galt vor der Antibiotika-Ära als einzige wirksame Therapie bei Progressiver Paralyse (Spätfolge einer Syphilis-Erkrankung, Psychose mit neurologischen Ausfällen). Bei Maria Bockentin stellte sich jedoch keine durchgreifende Besserung ein.

Sie wurde am 12. Juli 1933 in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg verlegt. Nach der Eintragung in der Friedrichsberger Patientenakte erschien sie "hinfällig".

Obwohl aus dem Allgemeinen Krankenhaus Eppendorf bereits die Diagnose "Progressive Paralyse" vorlag, wurde in Friedrichsberg am 14. März 1933 eine Lumbalpunktion vorgenommen, ein diagnostisches Mittel u.a. zur Erkennung von z.B. Infektionskrankheiten wie Neurosyphilis. (Bei dieser Untersuchung wird mit einer speziellen Nadel im Bereich der Lendenwirbel eine kleine Menge Rückenmarksflüssigkeit (Liquor) aus dem Wirbelkanal (Spinalkanal) entnommen.)

Die Berichte über Maria Bockentin lauteten bis zu ihrer Verlegung in die Staatskrankenanstalt Langenhorn am 3. Juni 1935 weitgehend gleichbleibend: Sie habe viel gesungen, aber auf Fragen nicht geantwortet. Sie wurde als sehr laut, unruhig, bettflüchtig und "triebhaft" wahrgenommen, habe sich selbst geschlagen und sei kaum im Bett zu halten gewesen. Ein Ergebnis der Lumbalpunktion findet sich in der Akte nicht. Auch für die angebliche Triebhaftigkeit fehlen nähere Erläuterungen.

Das Langenhorner Personal notierte auch häufige und plötzliche Stimmungswechsel. Sie habe Bettwäsche zerrissen, sei oft erregt und gewalttätig gegen Mitkranke und auch nachts sehr störend durch lautes Jodeln und Pöbeln gewesen. Sie habe sich für die Königin Luise von Preußen gehalten und sei sehr zugänglich gewesen, wenn sie mit "Majestät" angesprochen wurde.

Maria Bockentin wurde am 5. Dezember 1935 wie zahlreiche andere Patientinnen und Patienten aus der Staatskrankenanstalt Langenhorn in die damaligen diakonischen "Ricklinger Anstalten" bei Segeberg in Schleswig-Holstein verlegt. Hamburg wollte mit diesen Verlegungen den Aufwand für Versorgung reduzieren und zugleich auf indirektem Wege Betten in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg frei machen. Im Rahmen der 1934/1935 beabsichtigten Auflösung der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg hatte die Leitung der Ricklinger Anstalten dem Hamburger Senat angeboten, Patienten zu besonders günstigen Kostgeldsätzen zu übernehmen. In Rickling sollte der Tagessatz nur 2,80 RM gegenüber 3,50 RM in der Anstalt in Langenhorn betragen.

In den Ricklinger Anstalten wurde Maria Bockentin in das Haus Lindenhof eingewiesen. Nach den stichwortartigen Pflegeberichten ab Mitte 1938 war sie zeitweise erregt und aggressiv. Sie bildete sich ein, sie sei die Sonne oder eine Majestät. Tagsüber beschäftigte sie sich zeitweise mit Strickarbeit oder Kartoffelschälen. Nachts fing sie lt. Bericht plötzlich an laut zu singen.

Maria Bockentin blieb bis 25. November 1941 in Rickling. Von dort wurde sie in einem Sammeltransport in die Landesheilanstalt Pfafferode verlegt.

Pfafferode ist ein Ortsteil von Mühlhausen in Thüringen (ehemals preußische Provinz Sachsen). Auf dem Gelände des Gutes Pfafferode war ab 1910 eine "Irrenanstalt" entstanden, die 1929 über 1200 Betten verfügte. Von dort wurden im Jahre 1940 Patientinnen und Patienten in die Zwischenanstalt Altscherbitz im Nordwesten von Sachsen und dann weiter in die Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel, später in die Tötungsanstalt Bernburg gebracht und mit Kohlenmonoxid ermordet. Nach dem offiziellen Ende der ersten Phase der NS-"Euthanasie" im August 1941 und damit der Gasmorde in den Tötungsanstalten wurde in vielen psychiatrischen Anstalten, so auch in Pfafferode, weiter gemordet: durch Überdosierung von Medikamenten, durch Vernachlässigung und systematisches Verhungernlassen. Von den aus anderen Anstalten nach Pfafferode verlegten Menschen starben in den Jahren 1941 bis 1944 jährlich bis 94 Prozent.

Maria Bockentins in Pfafferode geführte Krankenakte enthält nur sehr wenige Angaben über ihren Krankheitszustand, nach denen sich hier die aus Rickling bekannten Verhaltensweisen weitgehend wiederholten. Zuletzt wurde am 9. August 1943 notiert, ihr Zustand sei unverändert.

Maria Bockentin starb am 8. Dezember 1943 in der Landesheilanstalt Pfafferode in Thüringen.

Stand: Juni 2024
© Ingo Wille

Quellen: StaH 332-5 Standesämter 9052 Geburtsregister Nr. 2746/1889 (Pauline Elise Alexandrine Theilen), 2172 Geburtsregister Nr. 403/1888 (Maria Caroline Auguste Theilen), 114106 Geburtsregister Nr. 793/1910 (John Franz Gustav Bockentin), 8665 Heiratsregister Nr. 462/1909 (Maria Caroline Auguste Theilen/Franz Bockentin), 7845 Sterberegister Nr. 1319/1889 (Caroline Adolphine Theilen), 7851 Sterberegister Nr. 89/1890 (Pauline Elise Alexandrine Theilen), 7269 Sterberegister Nr. 15/1943 (Franz Bockentin), 352-8/7 Staatskrankenanstalten Abl. 1/1995 Nr. 21631 (Maria Bockentin); Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Hamburg, Archiv, Akte der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg (Marie Caroline Auguste Bockentin); Thüringisches Staatsarchiv Gotha, Landesfachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Mühlhausen/Pfafferode Jg. 1943 Karton 3, Patientenakte Maria Bockentin (darin auch Akte aus Rickling). Michael Wunder, Die Transporte in die Ricklinger Anstalten, in: Peter von Rönn u.a., Wege in den Tod, Hamburgs Anstalt Langenhorn und die Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S. 256 ff.; Michael Wunder, Die Auflösung von Friedrichsberg - Hintergründe und Folgen, Hamburger Ärzteblatt 4/90. Harald Jenner, Michael Wunder, Hamburger Gedenkbuch Euthanasie – Die Toten 1939-1945, Hamburg 2017, S. 106. Steffen Kubrik, Die Anfänge der Psychiatrie in Mühlhausen-Pfafferode (1912-1958), Mühlhäuser Beiträge, Sonderheft 23, Mühlhausen 2012; Ricklinger Anstalten https://landesverein.de/geschichte (Zugriff am 25.3.2021). A.G.http://psychiatrische-landschaften.net/Malariakur, Zugriff am 9.5.2024, https://de.wikipedia.org/wiki/Malariatherapie, Zugriff am 15.4.24; Progessive Paralyse, Definition: https://flexikon.doccheck.com/de/Progressive_Paralyse#:~:text=Im%20Allgemeinen%20bezeichnet%20der%20Begriff,bis%205%20Jahren%20zum%20Tod, Zugriff am 15.4.2024.

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