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Stolpertonstein

Erzähler: Christine Jensen
Sprecherin: Volker Hanisch
Elsa Schickler
© Stadtteilarchiv Eppendorf

Elsa Schickler (geborene Berg) * 1877

Haynstraße 1 (Hamburg-Nord, Eppendorf)


HIER WOHNTE
ELSA SCHICKLER
GEB. BERG
JG. 1877
DEPORTIERT 1941
ERMORDET IN
RIGA

Weitere Stolpersteine in Haynstraße 1:
Paula Sternberg

Elsa Schickler, geb. Berg, gesch. Bandmann, geb. am 13.6.1877 in Hamburg, am 6.12.1941 nach Riga deportiert

Haynstraße 1

"Für die ersten dreizehn Jahre meines Lebens war meine Oma mein Lieblingsmensch auf dieser Welt. Sie hieß ,Muni’, weil der kleine Robert das Wort Oma nicht aussprechen konnte. Nun war diese Muni weiß Gott kein Großmütterchen mit Lavendel in der Kommodenschublade. Sie war eine eigenwillige Frau. Sie – das Frl. Elsa Berg – stammte aus einer alten jüdischen Hamburger Familie, aber noch vor der Jahrhundertwende hatte sie einen Christen geheiratet, einen Hamburger Kaufmann namens Bandmann, dessen Stammbaum bis ins 15. Jahrhundert zurückging. Darauf war ich als Kind stolz. Meine Oma hatte sich allerdings von ihm scheiden lassen aus Gründen, über die man nicht sprach. Sie hatte also zwei Kinder allein aufzuziehen, einen Sohn namens Egon, der Journalist wurde und etliche Male heiratete, und eine Tochter, Margot, die mit 21 Jahren einen 40-jährigen Wiener Bühnenbildner namens Alfred Müller heiratete. Ich war deren einziges Kind."

Muni, von der Robert Muller hier in einem Artikel der "Zeit" erzählte, hieß Elsa Berg.
Sie war die Tochter von Sophus und Dina Berg, geb. Selig, und wuchs in einem frommen jüdischen Haus in der Bundespassage 6 (heute Bundesweg) auf. Ihre Vorfahren, ursprünglich aus Dänemark stammend, lebten seit Generationen in Hamburg. Die Angaben ihres Enkels stimmen: Mit 21 Jahren, im April 1898 heiratete sie den Kaufmann Hermann Eduard Bandmann und bekam mit ihm zwei Kinder: Egon wurde am 13. März 1899 geboren, Margot kam am 22. Dezember 1902 zur Welt. Die Ehe scheiterte jedoch und wurde im Juli 1907 geschieden. Elsa Bandmann zog die beiden Kinder allein groß. Im Februar 1920 meldete sie ein Gewerbe als "Zimmervermieterin" an und eröffnete in ihrer großen Wohnung im Hegestieg 1 eine Pension. Als Tochter Margot 1923 heiratete, wohnte sie mit ihrem Mann und ab 1925 auch mit ihrem Sohn Robert bei ihrer Mutter im Hegestieg. Großmutter und Enkel entwickelten eine enge Beziehung zueinander, die auch bestehen blieb, nachdem die junge Familie erst nach Barmbek und später nach Eimsbüttel gezogen war.

"Muni wusste alles: den Unterschied zwischen einem Horch und einem Opel, zwischen einer Linde und einer Buche; sie erklärte mir auch, wie und wo man in der Hochbahn umsteigen mußte. Sie kannte schöne, verbotene Worte wie ,meschugge‘ und ,nebbich‘. Sie kochte herrliches Kalbsfrikasse. Sie wußte was mit dem Parsifal los war, und warum dieser Heinz-Rühmann-Film ,Ungeküßt soll man nicht schlafen gehen‘ hieß."

Ende der 1920er Jahre bekam Alfred Müller als Bühnenbildner nicht mehr genügend Aufträge und die Familie eröffnete in der Eimsbüttler Fruchtallee einen Spielwarenladen. So wuchs Robert Muller in zwei Welten auf: "Mein Leben spielte sich also teilweise in Eppendorf ab, meine Jugend, weil ich sehr viel Zeit mit meiner Großmutter verbrachte. Und das war ein ,middleclass life‘, nicht jüdisch, obwohl meine Großmutter jüdisch ist. Sie war sehr jüdisch irgendwie in ihrer Wärme und ihrem Sprachdiktum, aber wir feierten nicht Chanukka, es wurde Weihnachten bei uns gefeiert. So daß ich in den ersten fünf Jahren meines Lebens immer hin- und herpendelte zwischen diesem vornehmen Eppendorf meiner Großmutter und dem proletarischen Eimsbüttel meiner Eltern."

Inzwischen war Elsa Bandmann mit ihrer Pension so erfolgreich, dass sie sie erweitern wollte. Sie zog aus dem Hegestieg in die Haynstraße 3 (das Haus Haynstraße 3 ist das heutige Haus Haynstraße 1, erst durch einen Umbau des Hauses 1935/36 entstanden Seiteneingänge, mit den Adressen Hegestraße 41 und Haynstraße 3. Die Hausnummer Haynstraße 1 gab es damals noch nicht.) und mietete zwei Etagen. Ihre Pensionsgäste waren vorwiegend alleinstehende jüdische Frauen wie Robert Muller im Interview mit Beate Meyer beschrieb: "Es war eigentlich immer eine Pension für alte jüdische Damen, obwohl sie nicht als solche annonciert wurde, aber es kamen dann immer mehr jüdische Damen und manchmal auch Herren. Das sprach sich so herum. Und das waren alles Juden."

Ab 1935 ging Robert auf die Oberrealschule Eppendorf, gleich um die Ecke befand sich die Pension seiner Großmutter. Jetzt stießen seine zwei Welten aufeinander, und er versuchte immer, die eine vor den anderen zu verbergen: "Meine Schulkameraden, ,enthusiastische Wochenendpimpfe‘, durften nicht wissen, daß ich eigentlich ein verkappter Nichtarier war. Wie sie grölte auch ich zwölfmal am Tag meine Lehrer mit ,Heil Hitler‘ an. Hätte man meinen verbotenen Lieblingsmenschen entdeckt – mein Doppelleben wäre zusammengebrochen. Ich mußte also meine Muni verleugnen. Sie wußte das. Es war verdammt unangenehm, dieses Geheimnis, und machte mir mehr zu schaffen als diese sogenannte Reichskristallnacht im November 1938, als johlende SS-Männer auf die Tora pinkelten und Verwandte verhaftet wurden."

Auch in der Pension Elsa Bandmanns änderte sich die Atmosphäre: "Nach 1933 warteten sie [die Pensionsgäste] auf argentinische Visa, auf Einreiseerlaubnisse nach Palästina oder auf Affidavits aus den USA und spielten derweil Bridge."

Roberts Eltern bemühten sich ebenfalls um eine Ausreisemöglichkeit für ihren Sohn und sich. Im Herbst 1938, gerade 13 Jahre alt, verließ Robert Muller seine Heimatstadt Hamburg und seine geliebte Großmutter mit einem Kindertransport nach England. Alfred und Margot Müller folgten ihm kurz darauf.

In Hamburg zurückgeblieben, heiratete Elsa Bandmann den 60-jährigen Adolph Schickler. Robert Muller: "Das war der Freund einer Dame, die sich erhängt hatte. Und den hat sie sozusagen geerbt. Das war ein netter, verträglicher, älterer, witziger etwas unanständiger Herr. Die alten Damen mochten ihn alle. Und meine Großmutter hatte ihn liebgewonnen. Außerdem war er ein Schnorrer, er hatte kein Geld, und er hat von meiner Großmutter gelebt. Aber sie hat ihn, glaube ich, geliebt."

Bis zum Kriegsbeginn im September 1939 konnten Großmutter und Enkel sich Briefe schreiben. Elsa erzählte darin von ihrem Alltag und den Menschen in der Pension, erkundigte sich liebevoll nach Freunden und dem geliebten Fußball, nahm regen Anteil an Roberts Leben in England. Mit dem Krieg wurde ihr Kontakt unterbrochen, erst 1941 fanden sie über portugiesische Freunde eine neue Möglichkeit, sich zu schreiben.

Inzwischen waren Elsa und Adolph Schickler in den Loogestieg 13 gezogen und von dort in das "Judenhaus" Haynstraße 5 III. Am 25. Februar 1941 starb Adolph Schickler. Elsa gab die Hoffnung nicht auf, ihre Tochter und ihren Enkel wiederzusehen: "Ich warte täglich auf eine Abberufung und habe mich sehr mit dem Gedanken getragen, stattdessen zu Onkel Mole zu reisen [sich umzubringen], aber der Mensch hofft, solange er lebt. Es kommt immer wieder der Gedanke: Vielleicht, ganz vielleicht könnt ich doch die geliebten Kinder noch einmal wiedersehen – und wenn das Elend allzu groß wird, daß alle Hoffnung schwindet, dann kann ich ja noch immer zu ihm gehen, den Weg weiß ich. Leb wohl, mein heißgeliebtes Kind. Küsse mir den Jungen ..."

Elsa Schickler wurde am 6. Dezember 1941 ins Getto Riga bzw. auf das in der Umgebung Rigas gelegene Gut Jungfernhof deportiert. Über ihr weiteres Schicksal gibt es keine Information.

Ihr Sohn Egon lebte während des Krieges in Berlin. Er galt nach Kriegsende als verschollen und wurde auf den 31. Dezember 1945 für tot erklärt. Seine Schwester vermutete, er sei "von den Russen verschleppt und ermordet worden". Tochter Margot und Schwiegersohn Alfred überlebten den Holocaust in England und kehrten nur zu Besuchen nach Hamburg zurück.

Robert Muller wurde ein erfolgreicher Schriftsteller und Drehbuchautor. Die Liebe zu seiner Großmutter zieht sich durch sein Werk, ebenso wie die Hassliebe zu Hamburg. In seinem autobiografischen Roman "Die Welt in jenem Sommer", das unter diesem Titel auch verfilmt wurde, beschrieb er seine Jugend in Hamburg. Er ist im Mai 1998 gestorben.

© Maria Koser

Quellen: 1; 4; 5; StaH 351-11 AfW, 3420; StaH 332-5 Standesämter, 8922 Nr. 1711/1877; StaH 332-5 Standesämter 8589 Nr. 155/1898; StaH 36-2 Gewerbepolizei, K 3827; AB 1907-1939; FZH/WdE 127 Interview vom 15.3.1991; Interview Stadtteilarchiv Eppendorf vom 21.6.1991; Müller-Wesemann, Auf der Suche, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Bd. 88, 2002, S. 235ff.; Muller, Robert, Niemand rettete Muni, Erinnerung an eine verordnete "Abwanderung" in "Die Zeit" vom 31.1.1992; Muller, Robert, Die Welt in jenem Sommer, Bern, München, Wien, 1993.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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