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Grete Rhein, 1939
Grete Rhein, 1939
© Privatbesitz

Grete Rhein (geborene Pulvermacher) * 1906

Krohnskamp 3 (Hamburg-Nord, Winterhude)


HIER WOHNTE
GRETE RHEIN
GEB. PULVERMACHER
JG. 1906
DEPORTIERT 1941
RIGA
ERMORDET

Wally Frieda Grete Rhein, geb. Pulvermacher, geb. am 3.2.1906 in Hamburg, deportiert am 6.12.1941 nach Riga-Jungfernhof

Krohnskamp 3

Grete Rhein gehörte zu den ca. 120.000 Christinnen und Christen mit jüdischen Wurzeln, die durch den Rassenwahn des Nationalsozialismus als "Nichtarier" klassifiziert wurden. "Für die Nationalsozialisten waren sie Juden und wurden genauso behandelt, nämlich verfolgt, bis hin zum Mord. Das heißt, alle Maßnahmen der Ausgrenzung und Schikane trafen sie im gleichen Umfang. Sie wurden aus dem öffentlichen Leben ausgegrenzt und im Krieg seit Ende 1941 auch in die Vernichtungslager deportiert. […]. Ihnen wurde [...] ihre deutsche und nach ihrem Empfinden auch ihre christliche Identität abgesprochen", so die Hamburger Historikerin Professor Ursula Büttner.

Was für ein Schock die 1935 verabschiedeten "Nürnberger Rassengesetze" für diese Menschen bedeutete, und wie viele Betroffene bis dahin nichts von ihrer "jüdischen Herkunft" ahnten, ist nicht zu ermessen.

Gretes Eltern, der Kaufmann Hugo Pulvermacher (1861-1918), geboren in Annaberg, und Johanna Emma, geb. Behrend (1869-1917), geboren in Chemnitz, hatten im November 1893 in Hamburg geheiratet. Laut Eintrag im standesamtlichen Register waren beide "lutherischer Religion".

Emmas Eltern Elias Gottlieb Behrend (1839- 1907) und Feodore, geb. Wolff (1840-1907), hatten sich zu einem unbekannten Zeitpunkt nach 1882 taufen lassen, denn auf dem standesamtlichen Geburtseintrag ihres Sohnes Walter (1882-1953) sind sie noch mit "jüdischer Religion" verzeichnet, auf beider Sterbeeintrag ist 1907 dann "lutherischer Religion" eingetragen.

Hugo Pulvermachers Eltern Rosa, geb. Oppler (1832-1904), und der Wirtschaftsdirektor Marcus Pulvermacher (1809-1890) waren offensichtlich nicht konvertiert, denn sie sind auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Breslau (jetzt Wroclaw/Polen) beerdigt.

Dreizehn Monate nach der Hochzeit von Gretes Eltern, am 3. Dezember 1894, wurde der Sohn Gottlieb Otto Max geboren. 1895 und 1897 folgten die Töchter Feodore Paula Else und Helene Käthe Lisbeth. Grete als jüngste Tochter war also ein Nachkömmling und kam, wie damals üblich, in der Wohnung ihrer Eltern zur Welt. Die Familie lebte in der Papenhuder Straße 39 auf der Uhlenhorst, ganz in der Nähe der Großeltern Behrend, die in der Hausnummer 28 wohnten. Grete wurde am 20. Dezember 1907 in der Kirche St. Gertrud, Immenhof, getauft. Paten waren ihr Onkel Walter Behrend, Bruder ihrer Mutter, und eine "Frau Frieda Radel".

Im September 1909 zog Familie Pulvermacher nach Groß Flottbek in das Haus Theodor Körner Straße 12 (heute Müllenhoffweg). Damals noch ein Dorf, gehörte Groß Flottbek seit 1866 zu Preußen und wurde erst 1938 Hamburger Stadtteil. Wegen der Bahnverbindung nach Hamburg war es beliebter Wohnort für wohlhabende Kaufleute. Eine historische Postkarte von 1914 zeigt eine Reihe großbürgerlicher Villen in der Theodor Körner Straße, genug Platz für eine Familie mit vier Kindern und wahrscheinlich mit Dienstpersonal. Hugo behielt seine Geschäftsräume im Schopenstehl 33 in der Hamburger Altstadt bei, er erscheint im Hamburger Adressbuch als Inhaber der Firma G. London Nachfolger, Mehl- und Mühlenfabrikate.

1917, Grete war elf Jahre alt, erlebte sie die ersten beiden der vielen Verluste, die ihr weiteres Leben prägen sollten. Am 3. August starb ihre Mutter Johanna Emma Pulvermacher. Wenige Wochen später, am 31. August 1917, erlag ihr Bruder Max in Mazedonien der Verwundung, die er sich als Leutnant der Reserve im Mai 1917 zugezogen hatte.

Nach dem Tod seiner Ehefrau zog Hugo Pulvermacher mit seinen Töchtern Lisbeth und Grete wieder nach Hamburg, in die Klosterallee 24. Grete musste ihre bisherige Schule, das Bertha-Lyzeum, das sie seit 1912 besucht hatte, verlassen und wurde in das Lyzeum von "Fräulein" M. Henckel in Rotherbaum umgeschult.

Ein Jahr später, am 16. November 1918, folgte der nächste Schicksalsschlag, Gretes Vater verstarb. Der Haushalt in der Klosterallee wurde aufgelöst, das Haus in Groß Flottbek verkauft. Grete war nun Vollwaise und wurde, da minderjährig, unter Vormundschaft gestellt. Dank der noch vorhandenen Akte der Vormundschaftsbehörde Hamburg haben wir Informationen über ihre folgenden Jahre.

Die Vormunde, der Kaufmann Anton Nathusius sowie der Rechtsanwalt Edgar Cohen (später umbenannt in Wiegers), mussten der Vormundschaftsbehörde regelmäßig Bericht erstatten. So heißt es am 31. März 1919: "Grete Pulvermacher wohnt seit 15. Februar 1919 bei ihrer Tante Frl. Käthe Behrend Gross Flottbek Bogenstraße 11 gegen Pensionsvergütung, besucht das Gymnasium von Frl. M. Henckel, Tesdorpfstraße 16 und geht Ostern 1919 in die Klosterschule Holzdamm über. Pflege und Führung sind in jeder Weise zufriedenstellend."

Käthe Behrend war die Schwester von Gretes Mutter und wirkte seit 1908 als Oberlehrerin für Mathematik, Französisch und Englisch am Bertha-Lyzeum in Othmarschen. In dem Gebäude ist heute die Volkshochschule untergebracht. Das Haus Bogenstraße 11 in Gross Flottbek gehörte einem Verwandten ihrer Freundin Antonie Brockmeyer, die in der Reventlowstraße 47 eine Höhere Mädchenschule und Knaben-Vorschule betrieb. Die beiden Frauen wohnten später auch in anderen Wohnungen zusammen und zogen Grete wahrscheinlich gemeinsam groß. Auch Käthe wurde Jahre später, obwohl sie der evangelischen Kirche angehörte, als Jüdin klassifiziert. Sie verlor ihre Stelle, und als die Nationalsozialisten das Zusammenleben von jüdischen und nichtjüdischen Personen verboten, musste Käthe aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen und kam bei Grete im Krohnskamp 3 unter. Sie starb in Theresienstadt (s. www.stolpersteine-hamburg.de).

Grete stand nun zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit ein Schulwechsel bevor. Ihre "Anmeldung zur Aufnahme in die Unterrichtsanstalten des Klosters St. Johannis" ist erhalten, ebenso ihre Abgangszeugnisse. Das Bertha-Lyzeum bezeugte der Zwölfjährigen 1918 in allen Fächern gute oder sehr gute Noten, nur im Schreiben hieß es "genügend". Auch die Fremdsprachen Englisch ("sehr gut") und Französisch ("gut") standen schon auf dem Lehrplan.

Gretes Vormunde waren auch für die Regelung des Erbes von Hugo Pulvermacher zuständig. Der zur Verteilung unter die drei Erbinnen (Grete und ihre Schwestern Else und Lisbeth) zur Verfügung stehende Nachlass, zum großen Teil Wertpapiere und Kriegsanleihen, betrug am 31. März 1919 438 843, 96 Mark. Else war zu diesem Zeitpunkt bereits mit Viktor Reuss verheiratet und lebte in Stuttgart. Über Lisbeth Pulvermachers Leben wissen wir fast nichts. Sie war zu diesem Zeitpunkt bereits volljährig.

Die jährlich an die Vormundschaftsbehörde einzureichende Aufstellung über die Ausgaben für Gretes Unterhalt ergab im Jahr 1919 Folgendes (Auszug): "Pension (= Lebensunterhalt) für Monat Juni 230 M, Schulgeld Kloster St. Johannis im Juni 60 M, Prämie für Lebensversicherung im Juli 482,40 M, Schulgeld für Gretes frühere Schule M. Henckel Nachzahlung Januar bis März 105 M, Erbschaftssteuer (anteilig) 840,50 M." Gegengerechnet wurden die Einnahmen aus Zinsen, Dividenden und aus Verkäufen von Wertpapieren, die der Vormund vornahm.

Die Entwicklung der Inflation in Deutschland lässt sich in den Unterlagen anschaulich verfolgen. Im Jahr 1922 betrugen z.B. die Unterhaltskosten für Grete im Mai 900.- Mark, im November bereits 3000.- Mark. Im Juli 1924 schrieb Anton Nathusius an die Vormundschaftsbehörde: "Mit Bezug auf Ihre Anfrage nach der Abrechnung für das Jahr 1923 teile ich Ihnen mit, dass infolge der Entwertung der Papiere, das in Verwaltung befindliche Vermögen keine Einkünfte ergeben hat. Die Unterhaltskosten für das Mündel sind von deren Verwandten aufgebracht worden. Das Vermögen des Mündels berechnet sich nach den heutigen Kursen wie folgt: [...] M. 990,52. Das Mündel befindet sich in guter Pflege bei seiner Tante, Fräulein Käthe Behrend in Othmarschen, Giesestr. 8.[...]." Als Grete im Februar 1927 volljährig wurde, betrug ihr Guthaben noch 295, 90 Reichsmark.

Grete wird nicht nur von ihrer Tante Käthe und vielleicht auch deren Freundin finanziell unterstützt worden sein, sondern wahrscheinlich auch von ihrem Onkel und Paten Walter Behrend, Käthes Bruder. Dieser war von 1916 bis zu seiner Entlassung "aus rassischen Gründen" 1937 Direktor der Hille-Werke AG in Dresden, in denen Bohrmaschinen und Lastkraftwagen produziert wurden. Nach Gretes Volljährigkeit übernahm er die Verwaltung ihrer Wertgegenstände.

Grete verließ Ostern 1923 die Klosterschule mit einem guten Abgangszeugnis. Außer Englisch und Französisch hatte sie nun auch "Lateinisch" gelernt (Note genügend), in Mathematik, Chemie und Turnen war sie sehr gut. Im April begann sie eine dreijährige Buchhändlerlehre in der Exportbuchhandlung Martin Riegel, dessen Geschäft sich im Grindelberg befand.

Randbemerkung: Martin Riegel trat 1932 in die NSDAP ein und war von Herbst 1934 bis Herbst 1938 "Landesobmann der Reichsschrifttumskammer Gruppe Buchhandel". In einem Polizeibericht vom 14. September 1945 heißt es: "In seiner Eigenschaft als Landesobmann der Reichsschrifttumskammer hat er an den Liquidationen der nicht-arischen Buchhandlungen mitgewirkt."

Ob Grete nach Abschluss ihrer Lehre weiterhin bei Martin Riegel arbeitete, wissen wir nicht.

Aus einem Schreiben Walter Behrends geht hervor, dass sie sich im Dezember 1927 bei Dr. med. Hildebrandt in Niederzwehren bei Kassel aufhielt. Der praktische Arzt Jürgen Hildebrandt war der Ehemann von Gretes Schwester Lisbeth. Drei Jahre später, am 31. Mai 1930, starb Lisbeth Hildebrandt in Niederzwehren durch Selbsttötung, wie Gretes Tochter angibt. Ihr Tod wurde von der örtlichen Polizeibehörde an das Standesamt gemeldet. Für Grete bedeutete dies nach dem frühen Tod ihrer Eltern und ihres Bruders einen weiteren schweren Verlust.

Mit Gretes Erreichen der Volljährigkeit gaben die Vormunde ihre Bestallung zurück, die Akte der Vormundschaftsbehörde wurde geschlossen. Über die nächsten Jahre ihres Lebens haben wir keine Informationen. Ihren späteren Ehemann, den Buchhändler Peter Heinrich Hermann Rhein, lernte sie nach Angaben ihrer Tochter auf der Leipziger Buchmesse kennen. Er war am 3. November 1906 in Regensburg geboren und hatte seine Ausbildung in Würzburg absolviert. Nach Stationen in Nürnberg und Lübeck ließ er sich in Göttingen nieder. Im September 1931 wurden Grete und Hermann in Göttingen getraut, Trauzeugen waren zwei junge Göttinger Studenten, niemand aus Gretes Familie. Das Ehepaar lebte laut Meldekartei in der Wörthstraße 26, bei beiden war in der Spalte "Religion" das "luth." für lutherisch durchgestrichen und durch "ausgetreten" ersetzt worden.

Eineinhalb Jahre später, im März 1933, erfolgte der Umzug des Ehepaares nach Wismar in die Lindenstraße 27 (seit 10. April 1933 Adolf-Hitler-Straße). Hermann Rhein war bei der Suche nach einer Buchhandlung, mit der er sich selbstständig machen wollte, auf die Bartholdische Buchhandlung in der Hansestadt gestoßen. Gretes Tochter schreibt, dass ihre Eltern die Buchhandlung gemeinsam führten. Im Handelsregister eingetragen ist allerdings nur Hermann Rhein.

Zum Zeitpunkt des Umzugs nach Wismar war Grete bereits schwanger. Fünf Monate später, am 10. August 1933, brachte sie ihre Tochter Eva Toni zur Welt. Mit dem zweiten Vornamen wurde sie nach Antonie Brockmeyer genannt, der Freundin von Gretes Tante Käthe.

Am 15. September 1935 erließ der Reichstag während des Reichsparteitags in Nürnberg in Anwesenheit Adolf Hitlers die sogenannten Nürnberger Gesetze, mit weitreichenden Folgen. "Sie besiegelten die Degradierung jüdischer Bürgerinnen und Bürger zu Menschen minderen Rechts und bereiteten ihre gezielte, willkürliche Diskriminierung und Vernichtung vor" heißt es in einem Text der Bundeszentrale für politische Bildung. Eines dieser Gesetze, das "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre", regelte die Beziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen.

Eheschließungen sowie nichteheliche sexuelle Beziehungen wurden von nun an unter Strafe gestellt. Bestehende Ehen tastete das Gesetz nicht an, doch in der Folgezeit wurden Eheleute in "Mischehen" von den unterschiedlichsten Seiten (Gestapo, Vermieter, Arbeitgeber etc.) zur Scheidung aufgefordert, nachdem schon längere Zeit entsprechende Propaganda vorausgegangen war.

Die Definition, wer als jüdisch und damit nicht als Reichsbürgerin oder –bürger zu gelten hatte, lieferten die Nationalsozialisten am 14. November 1935. Grete galt nun als Jüdin. Und damit griff ein bereits früher erlassenes Verbot: Buchhändler mussten - um ihr Geschäft führen zu dürfen - der Reichsschrifttumskammer angehören. Waren sie jüdischer Abstammung oder mit einer Person jüdischer Abstammung verheiratet, wurden sie nicht in die Kammer aufgenommen und mussten ihr Geschäft veräußern oder schließen. Ob nur diese Existenzbedrohung dazu geführt hatte, dass sich das Ehepaar trennte, wissen wir nicht. Jedenfalls verkündete am 4. Oktober 1935 das Landgericht in Hamburg die Scheidung von Grete und Hermann Rhein.

Zusätzlich zu dem eingangs erwähnten Identitätsverlust als Deutsche und vielleicht Christin, obwohl aus der Kirche ausgetreten, war Grete nun auch noch eine geschiedene Frau. Sie zog im Januar 1936 mit Eva nach Hamburg zurück, wo sie Freundinnen und Familie hatte, die Tanten Käthe und Toni (Antonie Brockmeyer) sowie seit 1937 auch ihren Onkel Walter.

Zuerst wohnten die beiden im Heidberg 19 B, wenig später zogen sie in eine Wohnung im ersten Stock im Krohnskamp 3. Hermann Rhein blieb in Wismar und führte die Buchhandlung weiter. Tochter Eva erinnert sich an die angespannte Stimmung, wenn ihr Vater zu Besuch kam und manchmal auch etwas mit ihr unternahm. Er zahlte Unterhalt, Grete musste aber dazu verdienen. Nach Angaben ihrer Tochter sprach sie außer Englisch und Französisch auch Italienisch und Spanisch und übernahm in Heimarbeit Übersetzungsarbeiten und fremdsprachige Korrespondenz für Buchhändler.

Grete - so ihre Tochter - sei eine liebevolle Mutter gewesen, die sich viel mit Eva unterhalten habe. Diese erinnert sich, dass ihre Mutter sie oft auf den Schoß genommen oder den Arm um sie gelegt habe. Die Nachmittage verbrachten die beiden häufig an der Alster oder im Stadtpark. Es gab Besuche in Hagenbecks Tierpark und auf dem Dom, dem Hamburger Jahrmarkt, vor dem Einschlafen wurde eine Gute Nacht Geschichte vorgelesen. Im Sommer 1936 reisten Mutter und Tochter nach Süddeutschland und besuchten Gretes Schwester Else und deren Familie. Else überlebte die NS-Diktatur. Sie starb 1983.

Ende der 1930er Jahre wurde das Leben für jüdische Menschen immer unerträglicher gemacht. Spätestens seit dem Novemberpogrom 1938 war den meisten klar, dass es in Deutschland keine Zukunft für sie geben würde. Für viele war die Auswanderung bzw. ein Aufnahmeland zu finden, aber fast unmöglich. Die antijüdischen Maßnahmen betrafen auch Grete. Im Standesamtsregister ist vermerkt, dass sie seit dem 1. Januar 1939 den Zwangszusatznamen "Sara" führen musste.

Um Ostern 1939 erwähnte sie zum ersten Mal ihrer Tochter gegenüber eine Reise nach England. Eva solle zunächst allein dort hinfahren, sagte sie, um bei anderen Menschen zu leben, und eine andere Sprache müsse sie auch lernen. Wenn sie, die Mutter, einen Arbeitsplatz in England gefunden hätte, würde sie nachkommen. Als Erwachsene erfuhr Eva, dass ihre Mutter nach Berlin gefahren war, um dort die erforderlichen Papiere für einen Platz in einem Kindertransport zu organisieren.

Diese internationale Rettungsaktion begann im Dezember 1938 als Reaktion auf die vorangegangenen Novemberpogrome. Fast 10 000 Kinder aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und der Freien Stadt Danzig wurden von ihren Eltern in Sicherheit nach Großbritannien geschickt, die meisten sahen Mutter und Vater nie wieder. Tausende weiterer Kinder standen auf entsprechenden Wartelisten. Für einige wenige andere Länder wie Belgien, Schweden oder die USA gab es vergleichbare Projekte in weit geringerem Umfang.

Eva trat die Reise nach London an ihrem sechsten Geburtstag an, am 10. August 1939. Drei Wochen später entfesselte Deutschland mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg, die Kindertransporte wurden eingestellt.
Für die kleine Eva, die sich ganz allein in einem fremden Land wiederfand, sich mit niemandem verständigen konnte und in ihrer englischen Gastfamilie keine Wärme und kaum Verständnis erfuhr, war die Situation traumatisch. Sie war sehr unglücklich und vermisste ihre Mutter sehr.

Die zurückgebliebene Grete hatte ihr einziges Kind hergegeben und ihm so das Leben gerettet. Ob sie Anstrengungen unternahm, ihrer Tochter folgen zu können, wissen wir nicht. Vielleicht wollte sie ihre Tante Käthe, die bei ihr wohnte und der sie soviel verdankte, nicht allein lassen, vielleicht hatte sie nach all den vorangegangenen Verlusten auch keine Kraft mehr.

Das oben abgebildete Foto schickte Grete noch im August 1939 nach England. Als der Briefverkehr mit Großbritannien wegen des Krieges verboten war, versuchte sie nach Angaben Evas, über eine Freundin in der Schweiz mit der Gastfamilie Kontakt zu halten.

Eva besitzt noch die Weihnachtsgrüße vom Oktober 1941, die ihre Mutter ihr über das Internationale Rote Kreuz - "Höchstzahl 25 Worte!" - geschickt hat. Eva hatte inzwischen schreiben gelernt und antwortete auf Englisch.

Ob Grete den Gruß noch erhielt ist ungewiss. Am 6. Dezember 1941 wurde sie nach Riga deportiert und mit dem Hamburger Transport in das Außenlager Jungfernhof eingewiesen. Sie kehrte nicht zurück.

Stand: September 2023
© Sabine Brunotte

Quellen: 5, 8; Eva Lorimer, My Story, The Association of Jewish Refugees, London 2022; Interview mit Prof. Ursula Büttner auf https://www.evangelisch.de/inhalte/161218/16-10-2019/so-erging-es-christen-juedischer-herkunft-der-ns-zeit, Zugriff 1.6.2023; https://de.findagrave.com/memorial/210685774/rosa-pulvermacher Zugriff 30.08.2023; https://de.findagrave.com/memorial/210685769/marcus-pulvermacher Zugriff 30.08.2023; StaH 332-5_8966; StaH 332-5_2816; StaH 332-5_2348; Tod Max Pulvermacher 31.8.1917, Standesamt Gr. Flottbek, Urkunde Nr. 49; StaH 332-5_2376; StaH 332-5_9130; Tod Lisbeth Hildebrandt 31.5.1930, Eintrag Standesamt Niederzwehren (Kassel), Urkunde Nr. 18, unter www.ancestryinstitution.de/discoveryui-content/view/1444246:61119?tid am 5.9.2023; StaH 332-5_4819; StaH 332-5_8049; StaH 332-5_6875; StaH 332-5_6876; StaH 232-1 D84; StaH 362-2/36_438; StaH 213-13_3816; StaH 331-4_27; https://agora.sub.uni-hamburg.de/subhh-adress/digbib/start, Adressbücher Hamburg von 1905-1910, 1938, 1939; Adressbücher Altona 1918-1923; Zugriff 6.8.2023; https://www.hamburg.de/sehenswertes-gross-flottbek/ Zugriff 11.8.2023; St. Gertrud Nr. 295, Taufregister von 1907, schriftliche Auskunft Archiv des Kirchenkreises Hamburg-Ost vom 13.4.2023; files.genealogy.net/verlustlisten/18430.jpg, Zugriff 19.3.2023; files.genealogy.net/verlustlisten/21186 jpg, Zugriff 19.3.2023; https://www.stolpersteine-hamburg.de/? HYPERLINK "https://www.stolpersteine-hamburg.de/?&MAIN_ID=7&r_name=Behrend&r_strasse=&r_bezirk=&r_stteil=&r_sort=Nachname_AUF&recherche=recherche&submitter=suchen&BIO_ID=867, Zugriff 2.6.2023; https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de zu Hille Werke AG Dresden, Zugriff 15.7.2023; https://wismarerkalenderblaetter-blog.tumblr.com/post/174502146597/embed zu Lindenstraße Wismar, Zugriff 15.7.2023; "https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/501380/vor-85-jahren-nuernberger-gesetze-erlassen/ Zugriff 15.7.23; Ostsee-Zeitung Wismar 3.11.2016, S. 15, Artikel von Detlef Schmidt zum 110. Geburtstag von Hermann Rhein; Archiv Hansestadt Wismar, III Rep.1Aa Nr. 1136; Schriftliche Auskunft Stadtarchiv Göttingen, E-Mail vom 05.06.2023; schriftliche Auskunft des Enkels D. L., E-Mail vom 27.8.2023.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen.

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