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Wilhelm Jotkowitz und Familie Gumprecht
Wilhelm Jotkowitz und Familie Gumprecht
© Privatbesitz

Wilhelm Jotkowitz * 1877

Lehmweg 44 (Hamburg-Nord, Hoheluft-Ost)


HIER WOHNTE
WILHELM JOTKOWITZ
JG. 1877
DEPORTIERT 1941
ERMORDET IN
MINSK

Wilhelm Jotkowitz, geb. am 7.8.1877 in Hamburg, deportiert am 8.11.1941 ins Getto Minsk, ermordet

Lehmweg 44

Wilhelm Jotkowitz, geb. am 7. August 1877 in Hamburg, war das erste von neun Kindern des jüdischen Ehepaares Marcus Jotkowitz (1853-1926) und Betty Jotkowitz, geb. Schwabe (1851-1918). Er trug ganz patriotisch den Namen des damaligen preußischen Königs und Kaisers des Deutschen Reiches Wilhelm I.

Marcus Jotkowitz, der Vater, stammte aus dem Dörfchen Miechowitz bei Beuthen in der damals preußischen Provinz Oberschlesien (heute polnisch), war 1876 als 22-Jähriger nach Hamburg gekommen und als Weinhändler in die Firma Seligmann & Goslar in der Mühlenstraße in der Hamburger Neustadt eingetreten. Wilhelms Mutter, Betty, stammte aus Moisling bei Lübeck.

Für einige Jahre lebte die rasch wachsende Familie in Lübeck, wo Marcus Jotkowitz nun Kommissionsgeschäfte und eine Buchdruckerei betrieb. Nach Wilhelm (*1877) folgten die Kinder Dorothea (*1879), Leopold (*1880), Jenny (*1883), Julius (*1885), Olga (*1886) und Benno (*Hamburg 1892). Zwei Kinder starben noch in ihrem Geburtsjahr: Nathan (1888) und Dina (1890).

1887 erwarb Wilhelms Vater am Alten Steinweg 13, wiederum in der damals noch jüdisch geprägten Hamburger Neustadt gelegen, eine zum Verkauf angebotene Druckerei. Die Familie kehrte nach Hamburg zurück und wurde hier sesshaft. Die Konkurrenz im Druckerei-Gewerbe war enorm und nahm noch zu: Das Hamburger Branchenverzeichnis für 1887 nennt 132 Buchdruckereien, und für das Jahr 1900 über 200.

Marcus Jotkowitz spezialisierte sich deshalb mehr und mehr auf die Produktion von "Extra-Blättern" mit Sensations-Berichten von Mord und Totschlag, Unglück und Skandal in Stadt und Land, die er selbst verfasst hatte. Sie waren jeweils ein Blatt stark, in hoher Auflage gedruckt und wurden von Ausrufern in den Straßen für je 10 Reichs-Pfennige verkauft, manchen Tagen bis zu 2000 Stück. Das führte zwar wiederholt zu juristischen Konflikten mit den etablierten Hamburger Tageszeitungen, aber es rentierte sich.

Im September 1908 übernahm Sohn Wilhelm Jotkowitz die Druckerei, die unterdessen einige Schritte weiter in die Steinweg-Passage 24 umgezogen war, wo bereits der Bruder Leopold mit einer Papierwarenhandlung seinen Sitz hatte. Das war von praktischem Nutzen für beide. Jedoch war Wilhelm nicht der geeignete Verfasser für Moritaten und Sensationsberichte. Er beschränkte sich wieder auf Druckaufträge. Die musste er angesichts erdrückender Konkurrenz in mühseliger Arbeit heranholen, und allzu oft gingen nur bescheidene Bestellungen (Reklamezettel, Etiketten, Speisekarten etc.) in geringer Auflage ein.

Im selben Jahr, am 23. August 1908, heiratete Wilhelm Jotkowitz in Prag die elf Jahre jüngere Jüdin Hedwig, geb. Freund (*31.7.1888 in Prag). Wilhelm blieb als religiöser Mensch seiner orthodoxen Gemeinde ein Leben lang treu, Hedwig Jotkowitz war eher säkular orientiert. Aus der Ehe gingen drei Töchter hervor, die alle in Hamburg geboren wurden: Edith Elfriede (15.4.1910 – 6.1.1982), Jette Gertrude (*7.8.1913; sie starb am 30.10.1917 an Diphtherie) und Ruth (25.9.1919 – 8.7.2005).

Edith und Ruth Jotkowitz wuchsen gesund heran und erhielten eine gute Schulbildung. Edith besuchte das Lyzeum und wurde Sekretärin und Buchhalterin. Ruth erlernte nach der Höheren Töchterschule den Beruf der Verkäuferin und wurde Angestellte bei dem über Hamburg hinaus bekannten Modehaus der Gebrüder Robinsohn am Neuen Wall/ Ecke Schleusenbrücke. Die Familie lebte im Lehmweg 44, 2. Stock.

Spätestens mit dem Ersten Weltkrieg wurde es wirtschaftlich schwieriger für Wilhelm Jotkowitz und Familie. Zwar kehrte er wegen seines "mutigen Kampfeinsatzes" dekoriert mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse nach Hamburg zurück, aber die Beine waren durchschossen, und das behinderte ihn auch in der Ausübung des Berufes. Das Stehen an der Maschine fiel ihm ebenso schwer wie die Kundenbesuche.

Auch ließ inzwischen Hedwig Jotkowitz‘ Gesundheit merklich nach, zunehmend litt sie an verschiedenen Krankheiten, vor allem an Gelenkentzündungen, die sie immer unbeweglicher machten. Seit etwa 1933 benötigte sie zwei Krücken zum Gehen, sie zog sich Knochenbrüche zu und wurde schließlich mehr und mehr bettlägerig. Die ältere Tochter Edith gab zeitweilig ihre Arbeit als Kontoristin auf, führte den Haushalt und übernahm die Pflege der Mutter.

Wilhelm Jotkowitz scheint trotz allem nicht den Humor verloren zu haben: Wie sich die Enkelinnen, die Kinder der Tochter Edith, noch Jahrzehnte später gern erinnerten, machte es ihm Spaß, sie bei Besuchen zu unterhalten, indem er das Soldatenleben parodierte. So robbte er im Flur oder unter dem Wohnzimmertisch durch verschlammtes Gelände, unterquerte Stacheldraht-Verhaue oder bewältigte andere Hindernisse.

Doch aller Mut und gute Laune und kleine Druck-Aufträge nützten auf Dauer nicht. Die Maschinen, eine Schnellpresse und eine Tiegeldruckpresse, waren veraltet und taugten nicht für komplizierteren und qualifizierteren Druck. An die Anschaffung moderner Ausrüstung konnte er nicht denken. So musste die Familie 1926 zum ersten Mal Fürsorgeleistungen des Staates und der Jüdischen Gemeinde in Anspruch nehmen.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 und den zunehmenden antisemitischen Aktionen häuften sich die Schwierigkeiten und es sammelten sich auch Mietschulden für die Druckerei an. Schließlich untersagte Ende 1938 ihm – wie allen jüdischen Gewerbetreibenden - die Handwerkskammer die Weiterführung des Betriebes und ordnete die Abwicklung bis zum 31.12. des Jahres an.

Das Ehepaar versuchte nun durch die Untervermietung von Zimmern und mit der finanziellen Unterstützung der beiden Töchter, die die elterliche Wohnung schon verlassen hatten – Edith war seit Dezember 1930 verheiratet und hatte kleine Kinder – die ärgste Not zu lindern und die Krankheit Hedwig Jotkowitz‘ etwas erträglicher zu gestalten.

Über dieses Elend hinaus zeigen Hedwig und vor allem Wilhelm Jotkowitz‘ letzte Lebensjahre eindrücklich, wie sehr jüdische Menschen in dieser Zeit vereinsamten, dazu einige Daten zu Wilhelm Jotkowitz‘ Geschwistern und Kindern:
Wilhelms Schwester Dorothea (*1879), die seit 1922 in München lebte, floh 1938 nach Cuba. Sein Bruder Leopold (*1880), nach der Pogromnacht von November 1938 bis Jahresende im KZ Sachsenhausen eingesperrt und schwer misshandelt, entkam im Januar 1939 nach Australien. Die Schwester Jenny (*1883) zog 1914 mit ihrem Ehemann Eduard Jammer nach Berlin, er wurde im September 1941 im KZ Buchenwald ermordet, sie schaffte es illegal über die Grenze zunächst nach Belgien, dann nach Frankreich und überlebte. Sein Bruder Julius (*1885), der in Hamburg, Gerhofstraße, ein koscheres Restaurant geführt hatte, emigrierte 1936 nach London, 1938 folgte seine Ehefrau mit den drei Kindern nach. Wilhelm Jotkowitz‘ Schwester Olga (*1886) und ihr Mann Israel (genannt Max) Brand (*1886), der in Hamburg, Gosslerstraße 19, ein florierendes Farben- und Innendekorationsgeschäft besessen hatte, wurden am 25. Oktober 1941 nach Lodz deportiert. Er starb dort, zugrunde gerichtet durch Zwangsarbeit, am 12.9.1942. Wilhelm Jotkowitz‘ Schwester Olga wurde am 6.7.1944 im Vernichtungslager Chelmno ermordet. (Für beide liegen Stolpersteine in der Kremper Straße 2/ Hoheluft-Ost). Sein Bruder Benno hatte Hamburg bereits 1924 verlassen und war nach Düsseldorf, dann nach Köln gezogen. Von dort emigrierte er mit seiner Familie zunächst nach Palästina/Israel, dann weiter nach Australien.

Hedwig und Wilhelm Jotkowitz‘ Tochter Ruth entkam am 3.5.1939 nach Manchester/England. Sie arbeitete zunächst als Haushaltsgehilfin, dann als Verkäuferin im Warenhaus. Im September 1944 wanderte sie weiter in die USA, 1945 heiratete sie den Geschäftsmann polnischer Herkunft Paul Kestenbaum (3.12.1909 – 25.4.1992) und ließ sich mit ihm in Queens /NY nieder. Aus der Ehe gingen der Sohn Harold William (4.11.1946 – 14.7.2017) und die Tochter Ruby Hedy (*22.11.1950) hervor.

Die Tochter Edith, ihr Mann Werner Gerhard Gumprecht (23.12.1905 – 23.2.1980) und die drei Töchter Marion (*1932), Karen (*1936) und Renate (*1937) entkamen im Juli 1941, im nahezu letzten Moment und unter traumatisierenden Umständen, auf dem zum Passagier-Dampfer umgerüsteten, völlig überfüllten Frachtschiff "Navemar" über Spanien, Portugal, die Bermudas und Cuba in die USA, wo sie am 12. September in New York endlich an Land gingen. Die Familie ließ sich später in Cleveland/Ohio nieder und entwickelte sich glücklich weiter, mit heute elf Enkeln, 32 Urenkeln und bereits einer kleinen Schar von Ururenkeln.

Die Nachkommen von Hedwig und Wilhelm Jotkowitz sind über die ganze Welt verstreut, in insgesamt zwölf Ländern zwischen Nord- und Süd-Amerika, Neuseeland, Israel und Australien usw. Zwei der Töchter, Karen und Renate, leben noch heute (2021). Sie haben Hamburg schon mehrmals besucht. Die älteste, Marion, starb am 2.12.2018.

Zurück nach Hamburg: Am 7. 8.1941 - Familie Gumprecht war noch immer auf der Flucht über den Atlantik und bangte, vorbei an U-Booten und Treibminen vorbeifahrend, um ihr Überleben - starb in Hamburg Hedwig Jotkowitz. Sie wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Ohlsdorf nach orthodoxem Ritus bestattet.

Wilhelm Jotkowitz war nun völlig allein.

In einem Brief an die Familie seiner Tochter Edith in die USA vom 22.10.1941 - es ist sein letzter Brief überhaupt - heißt es:
"Meine lieben Kinder! Nach aufregender Zeit, meine Nerven sind ganz angespannt, so dass ich mich um 8 Uhr schlafen legte, ist es jetzt 2 Uhr nachts, wo ich aufstehe und Euch diese Zeilen schreibe. Zunächst habe ich bis heute täglich auf Post von Euch gewartet und nehme an, dass diese mich noch erreicht. Ich reise noch nicht, auch Leo Brand nicht, aber Max, Olga, Rainowitz und so viele reisen ab, Freitag den 24. geht es fort. Dass da meine Gedanken bei Euch sind, könnt Ihr Euch denken, doch was soll man tun, es ist alles in G’ttes Hand. Auch Riesenfelds, Herr Chassel usw….Wo wird Euer Vater noch hinkommen? Dass Eduard tot ist, habe ich Euch schon geschrieben. Vorläufig schreibt noch hier an meine Adresse. Was machen die Kinderchen? Hoffentlich sind alle gesund, auch Ihr. Olga ist nicht wieder zu erkennen. Kinderchen, ich kann nicht mehr schreiben. Ich habe Euch vier/fünf Briefe geschrieben. Schreibt Ruth auf alle Fälle von obigem.
1000 Küsse aus weiter Ferne
Euer Vater"

Mit der Formulierung "Viele reisen ab" meinte er die erste Deportation aus Hamburg am 25. Oktober 1941. Anfang November 1941 erhielt auch Wilhelm Jotkowitz den Deportationsbefehl: Er habe sich am Morgen des 7.11. im ehemaligen Logenhaus an der Moorweidenstraße zu seiner "Aussiedlung" einzufinden. Ein Ziel wurde nicht genannt. Der Hausrat sei mit dem Verlassen der Wohnung beschlagnahmt und gehe an das Deutsche Reich. Dass er im Ersten Weltkrieg für seinen Einsatz im Kampf für das sog. deutsche Vaterland und den Kaiser Wilhelm II mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden und seitdem kriegsversehrt war, interessierte nicht mehr.

Mit 960 Hamburger Jüdinnen und Juden verließ der Deportationszug am Vormittag des 8. November vom Hannoverschen Bahnhof in der heutigen Hafencity aus die Hansestadt und erreichte nach dreieinhalb Tagen Fahrt am 11. November sein Ziel: das Getto Minsk im besetzten Weißruthenien, dem heutigen Weißrussland. Das Getto Minsk war eines der entsetzlichsten Lager: Von den fast 2000 Bremer und Hamburger Jüdinnen und Juden, die hierher verschleppt wurden, überlebten nur 50 den ständigen Hunger, Eiseskälte, unsäglichen Schmutz, Krankheiten, Folter und die wiederholten Mordaktionen.

Wilhelm Jotkowitz überlebte nicht. Sein genaues Todesdatum ist nicht bekannt. Ein Überlebender meinte, sich an den 13. Januar 1942 zu erinnern. Offiziell gilt der 8.5.1945 als Todestag, der Tag der Kapitulation Deutschlands. Wilhelm Jotkowitz wurde 64 Jahre alt.


Stand: Januar 2021
© Johannes Grossmann

Quellen: StaH 351-11 Amt für Wiedergutmachung (AfW)_3523 (Wilhelm Jotkowitz); StaH 351-11 AfW_3371 (Wilhelm Jotkowitz); 351-11 AfW_35379 (Edith Gumprecht); StaH 213-13 Landgericht Hamburg, Entschädigungskammer_32117 (Edith Gumprecht, Ruth Kestenbaum); ebd. 23438 (Edith Gunprecht); StaH 314-15 Oberfinanzpräsident/Devisenstelle_FVg 8606 (Werner Gumprecht); StaH 522-1 Jüdische Gemeinden, 992b Kultussteuerkartei der Deutsch-Israelitischen Gemeinde (Jotkowitz, Wilhelm; Jotkowitz, Ruth); 522-1 Jüdische Gemeinden 992 e 2, Bd. 2 (Deportationsliste Minsk 8.11.41); Hamburger Adressbücher und Branchenverzeichnisse 1876-1942; Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus/Gedenkbuch, Hamburg 1995; Leo Baeck Institute/New York, Gumprecht Family Collection, https://archives.cjh.org/repositories/5/archival_objects/1065126; Komar, Karen: Eulogy for Wilhelm Jotkowitz, Unveröffentlichtes Manuskript, 2016; Komar, Karen: Summary of my family history and flight, Unveröffentlichtes Manuskript, o. J.; Komar, Karen: mündliche und schriftliche Auskünfte an den Autor, 2016-2021; Sielemann, Jürgen: "Extrablatt! Extrablatt!", Aus der Geschichte der Familie Jotkowitz in Hamburg, in: Liskor – Erinnern/Magazin der Hamburger Gesellschaft für jüdische Genealogie, 015/Sept. 2019; Sielemann, Jürgen: Aus der Geschichte der Hamburger Familie Gumprecht, in: Liskor, 016/Dez. 2019; Bajohr, Frank: "Arisierung" in Hamburg, Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933-1945, Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, hrsg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Band 35, 2.A. 1998; Meyer, Beate (Hrsg.): Die Verfolgung und Ermordung der Hamburger Juden 1933-1945, Hamburg, 2.A. 2007; Meyer, Beate: Bremer und Hamburger Juden im Ghetto Minsk, Vortrag, 2017; Heinz Rosenberg, Jahre des Schreckens/…und ich blieb übrig, dass ich Dir’s ansage, Göttingen 1992.

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