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Bereits verlegte Stolpersteine



Gideon Nathan * 1942

Hallerstraße 24 (Eimsbüttel, Rotherbaum)


GIDEON NATHAN
JG. 1942
GEBOREN IN
THERESIENSTADT
1944 AUSCHWITZ
ERMORDET

Weitere Stolpersteine in Hallerstraße 24:
Emma Baruch, Max Nathan, Ruth Nathan, Uri Nathan, Judis (Judith) Nathan

Max Nathan, geb. am 24.9.1911 in Lohra, am 19.7.1942 deportiert nach Theresienstadt, am 27.9.1944 weiterdeportiert nach Auschwitz und dort ermordet
Ruth Nathan, geb. Lübschütz, geb. am 7.1.1922 in Magdeburg, am 19.7.1942 deportiert nach Theresienstadt, am 6.10.1944 weiterdeportiert nach Auschwitz und dort ermordet
Uri Nathan, geb. am 4.12.1939 in Hamburg, am 19.7.1942 deportiert nach Theresienstadt, am 6.10.1944 weiterdeportiert nach Auschwitz und dort ermordet
Judis Nathan, geb. am 29.3.1941 in Hamburg, am 19.7.1942 deportiert nach Theresienstadt, am 6.10.1944 weiterdeportiert nach Auschwitz und dort ermordet
Gideon Nathan, geb. am 13.9.1942 in Theresienstadt, am 6.10.1944 deportiert nach Auschwitz und dort ermordet

Hallerstraße 24

Fünf Stolpersteine erinnern vor dem Haus Hallerstraße 24 an ein jüdisches Elternpaar mit drei kleinen Kindern. Über das Schicksal der jungen Familie berichtete eine Zeitzeugin. Es ist die in den USA lebende Judy Urman, die jüngere Schwester von Ruth Nathan, der Mutter der drei Kinder. Seit 1987 besuchte Frau Urman (früher Jutta Lübschütz) mehrmals zusammen mit ihrem Ehemann Ernest Urman die Orte ihrer Kindheit: Schönebeck, Salzelmen, Magdeburg. Beide bemühten sich darum, die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus auch bei jungen Menschen in Deutschland aufrechtzuerhalten, sprachen in Universitäten, Kirchen und Schulen und stifteten einen jährlichen Preis für Schülerarbeiten zu diesem Thema.

Auch den Herkunftsort von Ruths Ehemann Max Nathan, Lohra bei Marburg, besuchten Familienangehörige aus der Enkelgeneration. Max’ Bruder Theo-David Nathan und seine Familie hatten sich nach Palästina retten können. Nun fragten seine Kinder nach der Herkunft der Familie. In Lohra und Marburg erhielten sie Auskunft von Menschen, die das Schicksal der Juden am Ort erforschten und so entstand eine Freundschaft. Auch zwischen den Kindern und Enkeln der Familien Urman aus den USA und Nathan aus Israel entwickelte sich ein guter Kontakt.

Für die Eltern von Max Nathan und seine Schwester Betty wurden in Lohra Stolpersteine verlegt. In Mainzlar/Staufenberg im Bezirk Gießen liegen Stolpersteine für Max’ Bruder Arthur, seine Frau und drei Kinder, die in Treblinka ermordet wurden.

Max Nathan stammte aus dem kleinen hessischen Ort Lohra. Hier gab es seit dem 18. Jahrhundert mindestens vier jüdische Familien, davon zwei namens Nathan. Die Gemeinde gehörte, zusammen mit Fronhausen und Roth, zum Oberrabbinat Oberhessen mit Sitz in Marburg. Gottesdienste und Religionsunterricht fanden in dem zu diesem Zweck gemieteten früheren Rathaus statt. 1933 lebten in dem 1225 Einwohner zählenden Ort 34 jüdische Personen, 1939 waren es noch acht. Max Nathans Vater, Hermann, geb. 1876, bewohnte mit seiner gleichaltrigen, aus Oberasphe stammenden Frau Bertha, geb. Hess, das nach alter Dorftradition "Bules" genannte Haus in der Lindenstraße 24. Vater Hermann Nathan war selbstständiger Kaufmann für Stoffe, vorwiegend Konfektionsware und andere Artikel des täglichen Gebrauchs. Er betrieb einen Laden in der Lindenstraße 24 und lieferte auch nach außerhalb. In den Jahren 1903 bis 1918 wurden dem Ehepaar acht Kinder geboren. Die nationalsozialistische Herrschaft zerstörte die Familienbande. Die Eltern Hermann und Bertha Nathan sowie eine Tochter und zwei Söhne wurden zu verschiedenen Zeiten nach Theresienstadt deportiert und anschließend in einem Vernichtungslager ermordet. Zwei Kinder flüchteten in die USA, eine Tochter in die Schweiz, ein Sohn nach Palästina und einer nach Buenos Aires.

Über den Schul- und Ausbildungsweg Max Nathans, den zweitjüngsten, 1911 geborenen Sohn von Hermann und Bertha Nathan, wissen wir wenig. Vermutlich ging er in Lohra zur Schule und lernte anschließend das Schneiderhandwerk. Dazu könnte ihn der Umgang mit Textilien und Kleidern im Geschäft seines Vaters angeregt haben. Ausgebildet war er als Herren- und Damenschneider. In Lohra fand er dafür keine ausreichende Kundschaft und zog deshalb fort, so wie viele junge Leute, um in einer Großstadt Arbeit zu finden. Den Sommer 1933 verbrachte er in Paris. 1936/37 arbeitete er bei einem jüdischen Schneider in Magdeburg, wo er Ruth Lübschütz kennenlernte.

Die Lebenslinie von Ruth Lübschütz liegt klar vor uns. Ruth wurde am 7.1.1922 in Magdeburg geboren als erste Tochter des Ehepaars Julius und Else Lübschütz, geb. Marcus. Else Marcus’ Vater hatte die Firma für Sackleinwand und Jute um 1900 gegründet. Elses Bruder Georg Marcus und Elses Mann Julius Lübschütz führten gemeinsam den gut gehenden Betrieb "Säckegroßhandlung Marcus & Co." Breitestraße 11/12. Die beiden verschwägerten Familien waren in der Kleinstadt bekannt und angesehen. 1929 zog Julius Lübschütz mit seiner Familie in eine große Wohnung im zweiten Stock der Salzerstraße 22. Damit waren sie, ihrer Stellung in der örtlichen Gesellschaft entsprechend, in der Haupt- und Geschäftsstraße Schönebecks präsent. Die Mädchen, Ruth, genannt Ruthie, und die fünf Jahre jüngere, 1927 geborene Jutta, besuchten die allgemeine Volksschule. Dass sie Religionsunterricht in der Synagoge erhielten, unterschied sie nicht wesentlich von ihren christlichen Mitschülern und Mitschülerinnen. Es entstanden enge Kinderfreundschaften, wie die zwischen Ruth Lübschütz und Günter Kuntze, der aus einer sozialdemokratisch eingestellten Familie stammte. Durch ihn erfuhr Ruth schon vor 1933 etwas von den politischen Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten und Nationalsozialisten. Von ihm lernte sie, den Namen Adolf Hitler zu fürchten. Günter erklärte, was das von den Sozialdemokraten angeschlagene "Eiserne Front"-Plakat bedeutete, auf dem drei Pfeile gegen ein Hakenkreuz gerichtet waren.

Bald richtete sich die Aggression der neuen Machthaber gegen die Juden. Der Boykott vom 1. April 1933 betraf auch das Unternehmen der Familien Marcus und Lübschütz. Vor allen jüdischen Geschäften, auch vor dem Büro der Säckegroßhandlung, standen SA-Männer mit einem großen Transparent: "Kauft nicht beim Juden". In der Schule zog der "Geist der neuen Zeit" ein mit Hitlergruß, Heldenfeiern, Fahnenappellen. Auch zu Hause traf die Familie Lübschütz der Judenhass. Am Abend des 10. Mai 1933 durchsuchten SA-Männer die Wohnung nach Waffen und warfen alles durcheinander. Am Morgen fehlten Messer und Gabel aus dem Kinderbesteck der kleinen Jutta, die sich empörte, ihre Gabel sei doch keine Waffe! Vieles, was den beiden Mädchen lieb und vertraut war, wurde ihnen verleidet. Im Freibad, wo sich Ruth und Jutta mit Günter Kuntze zum Schwimmen trafen, wurden sie mit Schlamm beworfen und er als "roter Bonze mit deinen Judenzicken" verjagt. Im Lyzeum, das Ruth seit 1934 besuchte, befahl der in SA-Uniform auftretende Hausmeister jüdischen Schülerinnen, ihre Schulmappen zur Kontrolle vor ihm auszubreiten. Mitschülerinnen, in der Mehrzahl begeisterte "Jungmädel" im Bund Deutscher Mädel (BDM), rückten von den "nichtarischen" Klassenkameradinnen ab, sodass diese isoliert wurden.

Seit 1935 hatten die Rasse- und Blutschutzgesetze schmerzliche Restriktionen zur Folge. Die von den Mädchen wie eine zweite Mutter geliebte langjährige Haushaltshilfe Anna Liebe durfte nicht länger in einer jüdischen Familie arbeiten. Trotzdem half sie der Familie Lübschütz heimlich beim Umzug. Denn 1936 musste Julius Lübschütz das Haus in der Salzerstraße 22 verlassen. Die Schönebecker Hauptstraße sollte "judenfrei" werden. Familie Lübschütz zog in eine kleinere Wohnung nach Salzelmen, Magdeburgerstraße. Zwar wurden ihnen dort Steinchen gegen die Fenster geworfen und Müll auf den Balkon gekippt, aber der Hausbesitzer Gehre verteidigte seine Mieter mit dem Hinweis darauf, dass er selbst im Weltkrieg das Eiserne Kreuz Erster Klasse erhalten und eine Kriegsverletzung davongetragen habe und wohl fordern dürfe, dass man sein Haus nicht beschädige.

Im März 1936 wurde Ruth mit einem guten Zeugnis in die Untertertia versetzt. Damit war ihre Schulzeit zu Ende. Der Schulleiter bedeutete ihren Eltern bedauernd, Ruth müsse die Schule trotz ihrer guten Leistungen verlassen. Nun war auch das Lyzeum "judenfrei". Ruth machte noch einen Versuch, sich ihren Mitschülerinnen anzuschließen, indem sie sich wie diese zur Tanzstunde anmeldete. Aber auch der Tanzlehrer durfte keine jüdischen Mädchen aufnehmen. Er vermittelte Ruth jedoch die Teilnahme an einem privaten Tanzkurs im nahen Magdeburg. Dort begann sie nun auch eine Ausbildung zur ärztlichen Sprechstundenhelferin und medizinisch-technischen Assistentin bei dem jüdischen Arzt Dr. med. Gross. Die kommunikative und attraktive Ruth genoss ihre frühe Selbstständigkeit. Sie schloss sich einem Kreis von jungen, in der Ausbildung oder im Studium stehenden Menschen an, die sich gern in dem Lokal "Zur Deutschen Flotte" bei "Frau Strohbach" trafen, wo sie sich relativ frei von Bespitzelung durch Nazis oder deren Zuträgern fühlten. In dieser Zeit soll Ruth mit einem "arischen" Drogisten gut befreundet gewesen sein, berichtete Günter Kuntze. Als Dr. Gross 1938 nicht mehr praktizieren durfte, lebte Ruth als Gesellschafterin bei einer alten Dame, die kulturelle und geistige Ansprüche stellte und Ruth mit in Veranstaltungen des Jüdischen Kulturbunds nahm. Dort, so meint Judy Urman heute, habe Ruth wohl ihren späteren Mann Max Nathan getroffen. Das ist jedoch nur eine Vermutung, denn Ruth habe der fünf Jahre jüngeren Schwester nur wenig über persönliche Dinge erzählt. Auch hatte der Vater seine Töchter zur Verschwiegenheit ermahnt, weil jedes Wort in falsche Ohren gelangen konnte.

Die reichsweite Judenhetze am 9. November 1938 bildete den Auftakt zur weiteren Radikalisierung der Judenpolitik. Günter Kuntze erforschte später die Vorgänge der "Reichskristallnacht" in Schönebeck in allen Einzelheiten. Judy Urman erinnert sich noch heute, wie sie als elfjährige Jutta Lübschütz diesen Tag erlebte. Schon am Vortag hatte ihr Vater aus dem Radio erfahren, dass der in Paris von einem Juden angeschossene deutsche Diplomat von Rath gestorben sei. "Jetzt ist alles vorbei", habe ihr Vater gesagt. Am nächsten Morgen fuhr Julius Lübschütz wie immer zu seinem Geschäft. Dort rieten ihm die Arbeiterinnen, er solle schnell weglaufen, aber er stellte sich der Polizei, wo schon sein Schwager und andere Männer in Haft waren. Zu Hause klingelten zwei Männer und fragten nach Herrn Lübschütz, so erinnerte Jutta. Ohne zu wissen, dass ihr Vater verhaftet worden war, ging Jutta wie immer zur Schule. Eine Ersatzlehrerin übernahm an dem Tag den Unterricht. Frau Urman schreibt: "Der Schultag begann wie immer mit dem Singen ,Deutschland über alles‘. Ich sang mit. Dann wurde ein Lied mit der Lyrik ,Wenn das Judenblut vom Messer spritzt‘ gesungen. Ich sang es nicht. Dann wurde das ,Vaterunser‘ gebetet. Die Lehrerin sagte, dass wir stehen bleiben sollten im Angedenken an Herrn von Rath, der von jüdischen Mördern ermordet wurde. Nachdem wir uns hinsetzten, zeigte sie mit ihrem Finger auf mich und sagte: ,Du bist die Mörderin.‘"

Die öffentlich Diskriminierten versuchten einander nahe zu sein. Ruth war aus Magdeburg gekommen, wo sie ihrem Freund vor der Verhaftung zur Flucht nach Hamburg verholfen hatte. Zusammen mit ihrer Mutter ging Ruth nun zu der Frau des ebenfalls verhafteten Onkels Georg. Jutta blieb bei ihrer Freundin Ruth Margoniner und deren Schwestern. Weil sie als einzige blond war und "arisch" aussah, wurde sie zur Synagoge geschickt, um nachzusehen, was da los war. Eine Menschenmenge drängte sich vor dem Spektakel, das sich da unter Schreien und Johlen darbot: Durch die zerbrochenen Fenster sah man eine Figur, wie ein Rabbi in Talar und Gebetsschal drapiert, am Kronleuchter hängend hin und her schaukeln. Erst später erfuhr Jutta, dass es ein totes schwarzes Schwein gewesen war.

Julius Lübschütz wurde zusammen mit anderen jüdischen Männern ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt und dort zum pausenlosen Exerzieren und entwürdigenden Handlungen gezwungen. Else Lübschütz bemühte sich inzwischen um eine Möglichkeit zur Emigration. Unter Vorlage des Ehrenkreuzes als Frontkämpfer im Weltkrieg, das Julius Lübschütz 1934 im Namen Adolf Hitlers erhalten hatte, schaffte sie es, fünf Schiffskarten nach Shanghai und die Unbedenklichkeit zur Ausreise zu erlangen. Julius Lübschütz wurde Ende Dezember 1938 aus dem KZ entlassen, unter der Auflage, das Land bis Mitte Februar zu verlassen und über Buchenwald mit niemandem zu reden.

Am 7. Januar 1939, ihrem 17. Geburtstag, verlobte sich Ruth Lübschütz mit Max Nathan. Beide wollten nicht mit der Familie nach Shanghai reisen, sondern in die USA auswandern. Max hatte mit Hilfe von Verwandten in den USA bereits Auswanderungspapiere beschafft. Er lebte nun in Hamburg, von wo aus er mit Ruth emigrieren wollte. Die Eltern schickten Ruth und Jutta, die ja in Schönebeck nicht mehr zur Schule gehen durfte, ebenfalls nach Hamburg. Ein Vetter von Max arbeitete in der Verwaltung des Daniel Wormser Hauses, Westerstraße 27, und beschaffte ihnen dort eine Mansardenwohnung. Das Gebäude gehörte dem "Jüdischen Religionsverband". Der Gründer Daniel Wormser hatte hier Ende des 19. Jahrhunderts aus Russland vertriebene Juden aufgenommen und bis zu ihrer Ausreise in die USA unterstützt. Jetzt beherbergte die Stiftung flüchtige Juden, bis sie emigrieren konnten. Bei der Jüdischen Gemeinde erhielt Max Arbeit in seinem Beruf als Schneider. Er fertigte Kleidungsstücke für zur Deportation gezwungene Juden oder besserte sie aus. Ruth fand eine Anstellung als Hilfsschwester. Jutta konnte in einem Haus in der Johnsallee Schulunterricht bekommen.

Vater Julius musste in Schönebeck die "Arisierung" seines Geschäfts abwickeln. Ein früherer Konkurrent erwarb die Sackgroßhandlung in der Breitestraße zu günstigen Bedingungen. Julius Lübschütz‘ Vermögen wurde durch "Reichsfluchtsteuer", "Judenvermögensabgabe" und "Sicherungsverwahrungen" geplündert. Lediglich ein kleiner Festbetrag durfte vom Konto abgehoben werden. Else und Julius Lübschütz begannen, ihre Möbel zu verkaufen und zogen in zwei kleine Mansardenzimmer bei ihren jüdischen Freunden Margoniner, die beschlossen hatten, hier zu bleiben. Alles, was Lübschütz‘ mitnehmen wollten, musste genau aufgelistet und beim Zoll deponiert werden. Else kümmerte sich um die Vorbereitung der großen Reise. Aber die Zollabfertigung zog sich hin, die Unterlagen kamen vom Zoll nicht zurück. Frau Lübschütz verkaufte die Schiffskarten, um sie nicht verfallen zu lassen. Für ihren Mann erwirkte sie eine Verlängerung der gesetzten Frist, bis seine Ausreise wirklich glückte. Das betraf aber nicht diejenige seiner Frau und seiner Tochter. Im März 1939 verabschiedete sich die Familie vom Vater. Er gab Ruth und Max, deren Hochzeit er nicht mehr mitfeiern konnte, seinen Segen. Dann fuhr er nach Leipzig, weiter nach Genua und bestieg dort das Schiff "Conte Biancamano" mit Kurs auf Shanghai. Else Lübschütz, nun in Salzelmen allein, wollte ihren Kindern nahe sein. Sie fand in Hamburg ein Zimmer für sich und Jutta. Im Übrigen bemühte sie sich weiter um eine Möglichkeit, mit Tochter Jutta ihrem Mann nach China zu folgen. Seit Kriegsbeginn standen die Chancen schlecht. Es gab nur noch die Möglichkeit, China auf dem Landweg zu erreichen. Auch hatte Julius Lübschütz größte Schwierigkeiten, in Shanghai die erforderlichen Zertifikate für die Einreise seiner Familie zu bekommen. Das Warten zog sich hin.

Am 13. Juni 1939 heirateten Max und Ruth in Hamburg in der unzerstörten Dammtor-Synagoge. Die Trauung hielt Oberrabbiner Joseph Carlebach. Nur wenige Gäste waren anwesend. Eine kleine Feier fand in der Wohnung eines Kollegen von Max statt. Mit dessen Tochter blieb Ruth in Verbindung. Dieser Freundschaft verdanken wir das 1942 entstandene einzige Familienbild von Ruth und Max mit zwei Kindern. Am 4.12.1939 wurde der erste Sohn, Uri, geboren. Ein Jahr lang hofften die jungen Eltern auf eine baldige Abfahrt in die neue Welt.

Jutta war inzwischen in der Guttmann Stiftung in Leipzig, Jakobistraße 7 aufgenommen worden. Ursprünglich ein Waisenheim, bot das Haus nun 80 jüdischen Kindern aus allen Gegenden Deutschlands Zuflucht. In der nahen Schule erhielten die Jungen und Mädchen gemeinsamen Unterricht. Endlich, im Oktober 1940, erstand Else Lübschütz mit Hilfe ihres inzwischen in Berlin lebenden Bruders Georg die Fahrkarten über Moskau und Wladiwostok nach Shanghai. Glücklich über diese Wendung kam Jutta aus Leipzig bei ihrer Mutter in Schönebeck an. Vor ihrer Abreise wohnten sie wieder bei Familie Margoniner und verabschiedeten sich von vielen Bekannten. Jutta erinnerte sich daran, dass ein "arischer" Geschäftsmann nach Herrn Lübschütz fragte. Als er erfuhr, der sei in China, flüsterte er der Mutter ins Ohr, am liebsten würde er auch dahin mitgehen.

Traurig nahmen Else Lübschütz und Jutta in Hamburg Abschied von Ruth, Max und dem kleinen Uri. Ruth verheimlichte, dass sie wieder schwanger war, weil sie nicht wollte, dass ihre Mutter deshalb in Deutschland bliebe. Nach abenteuerlicher Fahrt durch das winterliche Russland und auf einem Küstenschiff durchs ostchinesische Meer erreichten sie am 9. November 1940 Shanghai, wo Julius Lübschütz sie empfing.

Zur gleichen Zeit, im Dezember 1940, zerschlugen sich die Hoffnungen von Ruth und Max endgültig. Alle Papiere waren in Ordnung, alles rechtmäßig abgestempelt, das Ziel in greifbarer Nähe. Da schnappte plötzlich die Falle zu. Ohne Begründung erhielt Max Nathan von der Gestapo die Auskunft, es gebe keine Ausreise mehr. Die Lage der kleinen Familie in Hamburg wurde schwieriger. Im Februar 1941 mussten sie aus dem Daniel Wormser Haus ausziehen. Es wurde für die Einrichtung eines Reservelazaretts der Wehrmacht beschlagnahmt. Ruth und Max wurden in den 3. Stock des Hauses Klosterallee 9 eingewiesen, das einen jüdischen Besitzer hatte und wo bereits mehrere Juden mit Kindern lebten. Am 29. März 1941 wurde Judis geboren. Ruth konnte die Geburt ihrer Tochter den Eltern noch mitteilen. Max fand neue Arbeit im Fischereihafen. Die Kinder gediehen trotz bedrückender Wohnungsenge und Mangel an ausreichender und frischer Nahrung. Im Juli 1941 zog Ruth mit den beiden Kindern zu Max’ Eltern nach Marburg. Vater Hermann Nathan war nach der Pogromnacht ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt worden. Als er zurückkam, verließ das Ehepaar Lohra und zog in eine kleine Wohnung nach Marburg, nicht geeignet für Kleinkinder. Nach einem knappen Monat zog Ruth wieder zurück zu Max nach Hamburg. Zwei, drei Briefe gingen noch zwischen Hamburg und Shanghai hin und her. Im Januar 1942 mussten Max und Ruth mit den Kindern noch einmal umziehen, nun in die in "Ostmarkstraße" umbenannte Hallerstraße 24. Das Haus gehörte dem Jüdischen Religionsverband und beherbergte ausschließlich Juden. Ruths letzter Brief aus Hamburg mit dem Foto datiert vom Juli 1942. Er enthielt die Nachricht, dass Max, sie und die Kinder nach Theresienstadt umziehen müssten und dass Ruth im 7. Monat schwanger sei.

Der Transport mit der Nummer VI/2 fuhr am Morgen des 19. Juli vom Hannoverschen Bahnhof in Hamburg ab. Zu den 801 Personen gehörten außer den Hamburgern Menschen aus Lübeck, Kiel, Uelzen und Rendsburg. Vom Zielort hatten die Reisenden höchst unterschiedliche Vorstellungen. In der Mehrzahl waren es alte Menschen, denen man vorgegaukelt hatte, in Theresienstadt fänden sie eine bequeme Altersversorgung. Viele von ihnen hatten gezwungenermaßen "Heimeinkaufsverträge" abgeschlossen und dafür ihr ganzes Geld eingezahlt. Der Schluss lag nahe: Wenn für die Alten so gut vorgesorgt war, gab es dort vielleicht auch für Kinder bessere Chancen als zu Hause. Übermüdet und erschöpft kamen die Reisenden am Abend des nächsten Tages am Bahnhof Bohusovice an. Mit dem Handgepäck beladen, die Kinder auf dem Arm, mussten sich Max und Ruth wie alle in Viererreihen formieren und den drei Kilometer langen staubigen Weg zu Fuß zurücklegen. Statt eines freundlichen Empfangs wurden sie unter Gebrüll und Beschimpfungen zur Registrierung aufgestellt. Ihre Transportnummer wurde für die Dauer ihres Aufenthalts gleichsam ein Teil ihres Namens. In mehrfacher Ausfertigung gelangte diese Nummer ans "Zentralkommissariat" und die "Zentralevidenz" der jüdischen Selbstverwaltung. Der Durchgangsbereich für die Ankömmlinge, den kein Lagerinsasse betreten durfte, hieß "die Schleuse". Dort wurde das Gepäck kontrolliert und gestapelt. Zur Nacht gab es kein anderes Lager als den schmutzigen Steinboden einer Kasematte oder Kaserne. Für Ruth war es ein schwerer Schlag, als ihr "arbeitsfähiger" Mann von ihr und den Kindern getrennt wurde und eine andere "Ubication" – so wurden die Wohnräume genannt – zugeteilt bekam. Im Sommer 1942, als das Getto die Transporte aus dem "Reich" kaum aufnehmen konnte, herrschte eine strikte Trennung von Männern und Frauen. Später wurde diese Regel gelockert. Eine Hilfe für Ruth war es, dass Max’ Eltern, seine Schwester Betty und andere Bekannte sich ebenfalls in Theresienstadt einfanden. Die Stadt war erst kürzlich von allen "Ariern" geräumt worden, sodass die hier gefangenen Juden aus dem "Protektorat Böhmen und Mähren" mehr Raum für sich und dadurch überhaupt bessere Lebensverhältnisse gewannen, freilich nur für kurze Zeit, denn nun setzten verstärkt Massentransporte aus Deutschland und Österreich ein. Die Neuankömmlinge wurden von den Bewohnern als unliebsame Konkurrenz, ja als Feinde wahrgenommen. Hinzu kamen Sprach- und Verständigungsprobleme und die große Enttäuschung über die Trostlosigkeit der Stadt und die erbärmlichen Unterkünfte.

Ruth stand die Geburt ihres dritten Kindes bevor. Die genauen Umstände kennen wir nicht. Der kleine Gideon wurde am 13. September gesund geboren. Das Neugeborene erhielt sofort eine Transportnummer. Die drei Kinder lebten ganz nah bei der Mutter. Erst im Alter von vier Jahren wurden Kinder in ein kollektives Erziehungsheim gegeben, gemeinsam notdürftig verpflegt und erzogen. In den Jahren 1942–1945 wurden in Theresienstadt etwa 230 Kinder geboren. Weit größer war die Zahl der erzwungenen Schwangerschaftsabbrüche, denn am Leben bleiben durften nur vor der Zeit im Getto gezeugte Kinder. Solche Anweisungen kamen nicht von der jüdischen Selbstverwaltung, sondern direkt aus der Zentrale des Reichssicherheitshauptamtes der SS.

Theresienstadt war alles andere als das gepriesene Altenheim für gut situierte deutsche Juden. Auch sie teilten sich ein Doppelstockbett mit anderen, standen vor der Gemeinschaftsküche Schlange für ein schlechtes Mittagessen, fanden in den mit bis zu tausend Bewohnern überfüllten "Ubicationen" keinen ruhigen Moment. Kein Arzt konnte sich um ihre Leiden kümmern und so starben viele von ihnen bald an Hunger und Schwäche. Uns interessiert, wie Ruth und Max Nathan mit ihren kleinen Kindern hier während der zwei Jahre lebten, die ihnen noch beschieden waren. Dabei sind wir auf Vermutungen angewiesen. Die tristen Existenzbedingungen der Bewohner wurden im Laufe des Jahres 1943 so alarmierend, dass die SS auf Drängen des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Roten Kreuzes eine "Stadtverschönerung" anordnete. Obersturmführer Rahm übernahm die Organisation. Er betrieb die "Verschönerung" mit großer Energie und trieb alle verfügbaren Arbeitskräfte zu Höchstleistungen an. Die ständige Angst vor Weiterdeportation, die das Leben vergiftete, hörte vorübergehend auf. Die Bewohner setzten alles daran, um das Leben in der Stadt erträglicher zu machen.

Für Heydrich und die Berliner SS-Zentrale bot sich die Chance, kursierende Gerüchte über nationalsozialistische Vernichtungslager zu widerlegen, als am 23. Juni 1944 eine Kommission des Internationalen Roten Kreuzes Theresienstadt besichtigte. Zwei Dänen und ein Schweizer wollten sich über die Unterkunft einer hier eingelieferten Gruppe von Dänen informieren. Die Besucher wurden von hohen SS-Chargen sowie einer Delegation des Internationalen Roten Kreuzes und des Auswärtigen Amtes in Berlin begleitet. Tatsächlich präsentierte sich Theresienstadt als "Mustergetto". Die Besucher sollten sich überzeugen können, wie hier in vorbildlich freier Selbstverwaltung eine beachtliche Produktion blühte. Alle erforderlichen sozialen Einrichtungen, Krankenhaus, Schule, Kinderheim, Künstlercafé wurden vorgeführt. Ruths Kinder durften einen Tag lang den buntbemalten "Kinderpavillon" genießen. Dass es zum großen Teil nur Schauobjekte waren, war für die Besucher kaum zu erkennen. Die Kommissionsberichte äußerten sich anerkennend über die beispielhafte Art der Internierung. Immerhin enthielten die Verbesserungen so viel Realität, dass sie bei den Insassen neue Lebenshoffnungen weckten. Im August/September entstand unter Zwang ein von den Lagerinsassen selbst gedrehter Propagandafilm, der die positiven Eindrücke der Besucher noch unterstreichen und verbreiten sollte: "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt."

Währenddessen wurden bereits neue Transporte von arbeitsfähigen Männern zusammengestellt. Insgesamt umfassten diese "Herbsttransporte" ungefähr 18.400 Personen. Das Ziel, angeblich ein Arbeitslager mit sehr günstigen Lebensbedingungen, erfuhr niemand. Auch Ehefrauen und Familien, so hieß es, könnten nachkommen und dort leben.

Am 27. September 1944 erhielt Max Nathan den Befehl zum "Arbeitseinsatz in einem neuen Lager". Am 28. September 1944 erreichten 2499 aus Theresienstadt deportierte Männer Auschwitz, unter ihnen Max Nathan. Sie wurden an einem der nächsten Tage vergast. Ruth und die drei Kinder Uri, Judis und Gideon folgten in der "Familienzusammenführung" am 6.Oktober 1944 mit 1550 anderen Menschen. Auch sie starben im Gas.

Stand: September 2016
© Inge Grolle

Quellen: 1; 2; 4; 5; 7; 8; StaH 351-11 AfW 11200, 45119; Kuntze, Juden in Schönebeck; Ders., Unter aufgehobenen Rechten; "Volksstimme" v. 20.11.2013 "Schönebecker Gymnasiasten werden im März Judy Urman in den USA treffen"; E-Mail Briefe von Judy Urman, USA v. 14.1.2014; 15.1.2014; 24.1.2014 u.a.; Tel. Gespräch mit Wolfgang Kühnel, Geschichtsverein Lohra betr. Familie Nathan v. 4.12.2013; E-Mail von Erika Gerhardt, Lohra v. 15.1.2014; 24.1.2014; Mails von Barbara Wagner, Geschichtswerkstatt Marburg, v. Febr. 2014; Meldekartei aus Marburg für Ruth Nathan über den Aufenthalt v. 14.7. bis 9.8.1941; Central Data Base of Shoa Victim’s Names, Yad Vashem, Gedenkblatt, eingereicht von Theodor Nathan (Bruder) für Max Nathan; Adler, Theresienstadt; Starke, Führer.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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