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Carl Ziemssen 1923 als Malergehilfe (Mitte)
Carl Ziemssen 1923 als Malergehilfe (Mitte)
© Privatbesitz

Karl Ziemssen * 1903

Ipernweg 11 (Hamburg-Nord, Fuhlsbüttel)


HIER WOHNTE
KARL ZIEMSSEN
JG. 1903
IM WIDERSTAND
MEHRFACH VERHAFTET
ZULETZT 1941
BUCHENWALD
1942 GROSS ROSEN
ERMORDET

Carl Ziemssen, geb. 13.9.1903 in Hamburg, KZ Fuhlsbüttel und KZ Buchenwald, ermordet 4.10.1942 im KZ Groß Rosen

Ipernweg 11

Im Quartier Essener Straße in Langenhorn gibt es ein Seniorenheim. Dort lernte ich im Jahr 2009 Edgar Ziemssen kennen. Edgar bewegt sich im Rollstuhl und seine Sprache ist etwas schleppend. Doch seine Frau Marlies hilft ihm, so gut es geht. Ein sympathisches Paar. Von Edgar erfahre ich, dass sein Vater im KZ umgekommen ist; er habe ihn das letzte Mal gesehen, als er sieben Jahre alt war.

Edgar Ziemssen hat in den letzten zehn Jahren eine Chronik seiner Familie zusammengestellt. So erfuhr ich mehr über den Vater und über ihn selbst. Nachdem die Eltern 1931 geheiratet hatten, wohnten und arbeiteten sie gemeinsam mit Onkeln und Tanten in Hamburg-Hamm in der Marienthalerstraße 10, Haus 2, Parterre. Der Vater war Schildermaler und verrichtete in den Wohnräumen sein Tagwerk, seine Schwestern Martha und Clara flickten zerlesene Bücher, denn Clara betrieb eine Leihbücherei. Vaters Mutter Marie war Plätterin. Edgar erinnert sich: "Die Familien meiner Eltern waren grundverschieden. Verschiedener ging es gar nicht. Der Vater kam aus einer Familie, da waren sie alle Atheisten, Pazifisten, Kommunisten. Bei Muttern war man evangelisch-lutherisch. Sehr strenge Baptisten – streng auch zu mir. Bald hatten sich beide Familien total überworfen." Drei Jahre nach der Heirat kam der Sohn zur Welt, er blieb das einzige Kind. Er wurde nach Etkar André benannt, dem Mitkämpfer des Vaters in der KPD, von dem der sehr schwärmte. Während der Junge heranwuchs, wurde der Vater immer wieder in Konzentrationslagern inhaftiert, meist über mehrere Monate. Edgar erfuhr nicht, was dem Vater geschah.

Die Ehe von Carl und Käthe Ziemssen hielt nur zwei Jahre. Käthe Ziemssen, die Mutter, verzieh dem Vater einen Fehltritt im Eheleben nicht und trennte sich von ihm. "Meine Mutter war schön, hysterisch und wusste sehr genau, was sie wollte. Wer als Mann einmal einen Fehler gemacht hatte, den schickte sie in die Wüste", so Sohn Edgar. "Auch mit Schmuck war sie dann nicht mehr zu erweichen. Sie mochte ohnehin nur Bernsteinschmuck." Der Vater zog aus und fand im Ipernweg 11 in Fuhlsbüttel eine Mansarde.

"Mein Vater war eine Seele von Mensch. In der wenigen Zeit, die er für mich hatte, hat er mich viel beschäftigt. In dem winzigen dreieckigen Garten mit Holunderbusch hinterm Haus grub er einmal solange, bis weißer Sand zum Vorschein kam. So kam ich zu einem Sandkasten. Obwohl Vater von Krieg und Waffen sonst nichts wissen wollte, schossen wir beide einmal im Hausflur mit einem Luftgewehr auf Schießscheiben. Ein andermal warf er ein Grammophon an, ich steckte meinen Kopf in den Trichter und wunderte mich, dass ein ganzes Orchester da drin spielen sollte. Ich drehte mich zur Musik, worauf mich Papa immer wieder hoch warf, solange bis ich irgendwo gegen kam. Die Narbe habe ich heute noch. Vater war wohl viel für die Partei unterwegs. Nach der Trennung meiner Eltern wuchs ich bei der Großmutter mütterlicherseits auf. Ich war zwar ein Dickkopf und habe viel Prügel bezogen, aber mit Gewalt war bei mir nichts zu machen. Mutter hielt mich von Vater fern. So sah ich ihn nur kurz bei meiner Einschulungsfeier wieder. Immerhin hatte er dafür gesorgt, dass ich bei der Einschulung eine Schirmmütze trug, wie sich das für einen Hamburger Jung gehörte."

Im dritten Kriegsjahr kam Sohn Edgar mit der Kinderlandverschickung nach Bayern und besuchte in Hartkirchen die Dorfschule. An dieses Jahr erinnert er sich gern. Die Bauernfamilie, die ihn aufnahm, verwöhnte ihn. Nach der Rückkehr verbrachte er ein weiteres Jahr im Kinderheim der Diakonie in Bad Oldesloe. Edgar rückblickend: "Als ich in Bad Oldesloe einmal was ausgefressen hatte, musste ich zur Strafe die Hose runterlassen, mich über einen Stuhl legen, und dann schlug mich die Oberschwester etliche Male mit dem Holzlineal auf den nackten Hintern. Das tat zwar sehr weh, war aber sofort wieder vergessen." Die Kinderlandverschickung nahm kriegsbedingt für Edgar kein Ende. Auf Bad Oldesloe folgten Heime in den Ostseebädern Kellenhusen und Heiligenhafen.

Die Ehe der Eltern wurde drei Jahre nach Kriegsbeginn geschieden. 1942 kam der Vater im KZ Groß Rosen um. Die Mutter, die bis 1986 lebte, hat nie über die NS-Zeit gesprochen. Sein erstes Schulzeugnis bekam Edgar, als er die 3. Klasse beendete. Fünf Jahrzehnte nach dem Krieg begann Edgar mit seinen Nachforschungen. Er will mehr wissen. Besonders Wolf-Peter Szepansky von der "Stiftung Hilfe für NS-Verfolgte" in Hamburg unterstützte ihn anfänglich bei den Recherchen. Erst jetzt erfuhr Edgar von der politischen Arbeit des Vaters und von den Verhaftungen und den näheren Umständen seines Todes.

Der Vater
1903 in Hamburg geboren, besuchte Carl Friedrich Ziemssen die öffentliche Volksschule in Rothenburgsort und ging in eine Malerlehre. Bei der Weiterbildung zum Plakat- und Schriftmaler lernte er den zwei Jahre älteren Otto Richter kennen. Richter hatte zwar Maschinenbau gelernt, war aber Kunstmaler. Sie wurden Freunde, und Otto heiratete Carls Schwester Martha. Edgar erinnert sich gut:
"Die beiden waren immer in Diskussionen um die Weltanschauung verwickelt. Später, als Onkel Otto schon als Künstler in Hamburg etwas bekannter war, nahm er mich zu einer seiner Ausstellungen mit. Genau wie Vadder war er in der KPD. Als in der Nazizeit einmal ein Genosse von der Gestapo gesucht wurde, hat Onkel ihn in seiner Besenkammer versteckt. Die Gestapo klingelte zwar auch bei ihm, konnte aber nichts finden. Onkel Otto hat den Krieg überlebt. Irgendwann nach 1960 ist er an Lungenkrebs gestorben."

Im Mai 1933 wurde Carl Ziemssen erstmals im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel (später als "Kolafu" bekannt) für drei Wochen inhaftiert. Immer wieder wurde er dann verurteilt und eingesperrt. Auf freiem Fuß verdiente er als Malergehilfe seinen Lebensunterhalt. 1936 saß er in der Haftanstalt Glasmoor und drei Monate wieder im "Kolafu" ein, 1937 kam er abermals für drei Wochen ins "Kolafu", 1941 in die Haftanstalt Harburg. Nach dem Krieg bestätigte das Landgericht Hamburg der Familie die Verurteilung des Vaters wegen "Vergehen gegen § 2 des Gesetzes gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen vom 20.12.1934". Was genau zu seiner Haftstrafe im Gefängnis Harburg, Buxtehuderstraße 9, geführt hatte, deutete Carl Ziemssen in einem Brief am 15. Februar 1942 an seine Mutter an: "Solltet Ihr nicht wissen, warum ich hier bin? Beleidigung der Wehrmacht (Heimtücke)". Im Scheidungsverfahren 1942, bei dem Carl wegen seiner Haft in Harburg nicht persönlich anwesend sein konnte, wurde auch seine politische Einstellung ins Feld geführt. Im Scheidungsurteil heißt es: "Durch die neue Straftat hat der Beklagte wiederum seinen schlechten Charakter gezeigt. In einem Kriege um das Sein des deutschen Volkes beleidigt der Beklagte [...] die deutsche Wehrmacht. Er bringt dadurch nicht nur sich selbst in Haft, sondern setzt auch seine Familie wiederum der Not aus." Die Gestapo ließ ihn nach Verbüßung der zehnmonatigen Gefängnishaft in Harburg nicht mehr aus ihren Fängen. Bei der Entlassung wurde er an der Gefängnispforte von der Gestapo in Empfang genommen und für fünf Wochen ins "Kolafu" und dann nach Buchenwald gebracht. Seine Mutter Marie empfing aus Buchenwald ein einziges Lebenszeichen ihres Sohnes, einen Brief: "Sende mir bitte ein paar Schuhe von Vater, meine braunen Stiefel, ein paar Strümpfe zum Wechseln und Fußlappen, welche Du aus altem Flanell herstellen kannst, ich wäre Dir sehr dankbar, und Vaters Ledergamaschen. [...] Also sende mir die Sachen, ich brauche sie sehr." Mitte September 1942 wurde er von dort magenkrank in das oberschlesische KZ Groß Rosen verlegt, wo er am 4. Oktober starb. Offizielle Todesursache: akute Herz-Kreislaufschwäche. Sechs Wochen später nahm Carls Mutter bei der Gestapo an der Stadthausbrücke seine letzten Habseligkeiten entgegen.

Nachsatz
Viele Jahre nachdem ich mit Edgar Ziemssen die Gespräche über seinen Vater geführt hatte, ist er im Mai 2018 an einer Krebserkrankung verstorben.

Stand: Januar 2023
© René Senenko

Quellen: StaH, 332-5 Standesämter, Geburtsregister 13939 u. 1786/1903 Carl Friedrich Ziemssen; StaH, 332-5 Standesämter, Heiratsregister 13592 u. 792/1931 Carl Ziemssen/Käthe Stolte; Aufzeichnungen von René Senenko über die Gespräche mit Edgar Ziemssen von November 2011 bis Januar 2012; von Edgar Ziemssen ausgearbeitete "Chronik der Familien Ziemssen/Stolte" sowie die dazugehörigen Dokumente und Fotos: Bescheinigung des Oberstaatsanwalts beim Landgericht Hamburg vom 27.8.1945, Az. 11 Ja. F. Sond. 176/41; Brief von Carl Ziemssen aus der Haftanstalt Harburg an seine Mutter, 15.2.1942; [Scheidungs-]Urteil des Landgerichts Hamburg, Zivilkammer 16b, verkündet am 3.3.1942, Az. 16b R309/41; Brief des Schutzhäftlings Nr. 975, Block 41, Carl Ziemssen, aus dem KZ Weimar-Buchenwald an seine Mutter, 12.5.1942, Sterbeurkunde, Standesamt Groß-Rosen II, Nr. 65/42, 4.10.1942, bestätigt durch das Standesamt Hamburg am 22.9.1953; Bescheinigung des Lagerarztes KL Groß-Rosen bzgl. Tod des Schutzhäftlings Ziemssen, Carl, 26.10.1942; Vorladung der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Hamburg für Maria Ziemssen, 19.11.1942; Liste der "Nachlass-Sachen des im Konz. Lager Groß-Rosen verst. Häftlings Karl Ziemssen" v. 3.11.1942; Vereinigte Arbeitsgemeinschaft der Naziverfolgten e. V. (Hamburg): Totenliste Hamburger Widerstandskämpfer und Verfolgter 1933–1945, Hamburg 1968, S. 97.
Anmerkung: Carl ist die Schreibweise des Vornamens laut Geburtsurkunde.

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