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Paul Poetzsch, 1938 (Photo Ausmusterungsschein)
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Paul Poetzsch * 1919

Schmachthäger Straße 13 (Hamburg-Nord, Barmbek-Nord)


HIER WOHNTE
PAUL POETZSCH
JG. 1919
EINGEWIESEN 1943
’HEILANSTALT’
WEILMÜNSTER / EICHBERG
1944 ’HEILANSTALT’
HADAMAR
ERMORDET 7.11.1944

Paul Poetzsch, geb. 24.4.1919, deportiert am 7.8.1943 nach Weilmünster/Eichberg, am 2.10.1944 nach Hadamar, dort getötet am 7.11.1944

Schmachthäger Straße 13

Paul Poetzsch wurde am 24. April 1919 in Barmbek geboren. Sein Vater Paul war Ewerführer (Schiffsführer), ob seine Mutter Auguste, geb. Kramer, berufstätig war, wissen wir nicht. Die einzige Quelle zum Schicksal Paul Poetzschs ist die Akte der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Paul Poetzsch wurde in der elterlichen Wohnung in der Gustavstraße 14 geboren und am 20. Juli 1919 in St. Katharinen getauft, Gevattern (heute Paten) waren seine Eltern.

Paul Poetzsch war geistig behindert. Schon in den 1920er Jahren wurde gegenüber Menschen mit Behinderungen eine Politik der Aussonderung, Ablehnung und Überwachung praktiziert, die von den Nationalsozialisten radikalisiert und gegen Ende der 1930er Jahre bis zum Mord fortgetrieben wurde.

1926, im Alter von sechs Jahren, brachte die Mutter Paul Poetzsch zum ersten Mal in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg. Zur familiären Situation wurde vermerkt, er habe fünf Geschwister. Seine Diagnose lautete auf "Imbecill" (heute geistige Behinderung). Am 20. Januar 1926 wurde er in Friedrichsberg aufgenommen.

Aufgrund einer zuletzt am 30. November 1928 vorgenommenen Untersuchung verfügte der Leitende Oberarzt des Landesjugendamtes, Willinger, Ende Januar 1929, dass eine "Überweisung in eine Hamburgische Anstalt für Geisteskranke, Idioten und Epileptiker" und dementsprechend seine "Aufnahme in die Alsterdor­fer Anstalten auf Kosten des Wohlfahrtsamtes erforderlich" sei. Die "Haupterscheinung der Krankheit" wurde mit "Schwachsinn hohen Grades (Idiotie)" angegeben.

Am 14. Juli 1933 erließen die Nationalsozialisten das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", das in § 1 festhielt "Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden …" § 2 definierte die Betroffenen: "Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet:
1. Angeborener Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. Zirkulärem (manisch-depressiven) Irresein, 4. Erblicher Fallsucht, 5. Erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), 6. Erblicher Blindheit, 7. Erblicher Taubheit, 8. Schwerer erblicher körperlicher Mißbildung."

Das Gutachten des Oberarztes Kreyenberg in Alsterdorf von 1934 argumentierte klar in Richtung einer nicht fürsorgenden, sondern aussondernden Medizin gegen Paul Poetzsch: "In seinem Betragen ist er im allgemeinen folgsam, wird jedoch von starker motorischer Unruhe beherrscht, kann kaum stillsitzen, redet ununterbrochen, lacht viel. (…) trotz allem muß er sterilisiert werden. (…) Die Sterilisation ist von uns aus beantragt."

Am 23. April 1935, einen Tag vor Paul Poetzschs 16. Geburtstag, teilte die Direktion der Alsterdorfer Anstalten "mit deutschem Gruß" den Eltern mit, "daß Ihr Sohn Paul heute zur Sterilisations-Operation in das Universitätskrankenhaus Eppendorf verlegt worden ist".

Die Hamburger Gesundheits- und Wohlfahrtsbehörden taten sich mit besonders effektiver Durchsetzung des "Erbkranken"-Gesetzes hervor. 1934 waren im damaligen Deutschen Reich bereits 2860 Sterilisationsbeschlüsse gefällt worden, davon alleine 706 in Hamburg. Insgesamt wurden in Hamburg von 1934 bis 1945 24.260 Menschen sterilisiert.

Wenige Monate zuvor hatten die Eltern Paul Poetzsch nach Hause geholt, nachdem er fünfeinhalb Jahre (bis zum 25. November 1934) in Alsterdorf zugebracht hatte.

Vielleicht war ein Anlass dafür die Beschwerde seines Vaters, die in einer Aktennotiz vom 23. Juli 1933 vermerkt wurde: "Der Vater von Paul Pötzsch kommt aufgeregt in die Sprechstunde! Er habe seinen Sohn vor etwa einer Stunde auf Urlaub geholt und als ihn seine Frau zu Hause umziehen wollte, entdeckte er ausgedehnte Striemenbildungen am ganzen Körper. Es finden sich bei dem Jungen allerdings am Gesäss, am Arm und am Rücken deutliche, von einem breiteren Gegenstand hervorgerufene, grössere längliche Striemenbildungen, die gelblich-grün verfärbt sind, und von denen die Stelle am Gesäß sogar blutunterlaufen ist. Die sofort eingeleitete Untersuchung, zu der ich auch Herrn Ins. Hülsen hinzuzog, ergab eine strikte Ablehnung der Pfleger Lauermann und Petersen, den Jungen geschlagen zu haben. Dagegen gibt Herr Lauermann an, dass die Stellen wohl durch gegenseitiges Schlagen der Zöglinge mit Holzschippen beim Spiel in der Sandkiste entstanden sein könnten. Es wird dem Vater zugesichert, dass die Beaufsichtigung in der Sandkiste nunmehr genauestens durchgeführt wird, (…)."

Außerdem schrieb "die Direktion" am 4. August an den Vater: "Bezug nehmend auf Ihre mündliche Beschwerde, teilen wir Ihnen höflichst mit, daß die Stellen am Körper Ihres Sohnes Paul allerdings von seinem Pfleger morgens beim Baden hätten bemerkt und dem Arzt gemeldet werden müssen. Daß die Stellen aber durch Schläge von Seiten des Pflegers entstanden sind, wird von den zuständigen Pflegern entschieden bestritten und ist auch von vornherein höchst unwahrscheinlich, da Paul ein freundlicher, zutraulicher Junge ist, den die Pfleger gern haben (…)."

In der Akte von Paul Poetzsch ist festgehalten, dass er mehrmals jährlich nach Hause beurlaubt wurde. Kreyenberg hatte in seinem Gutachten von 1934 geurteilt: "Gegen eine Entlassung dieses harmlosen Schwachsinnigen in geordnete häusliche Verhältnisse ist nichts einzuwenden." Die Sterilisation, die sein einziges ärztliches Anliegen war, hatte er ja schon beantragt.

Am 29. März 1935 wurde Paul Poetzsch zum zweiten Mal nach Alsterdorf überwiesen und dort am 9. April 1935 wieder aufgenommen. Die Begründung in der Überweisung der Gesundheits- und Fürsorgebehörde lautete: "Weiteres Verbleiben im Hause der Eltern ist nicht möglich wegen der ungünstigen Beeinflussung der übrigen Geschwister."

Offensichtlich hatte man die Familie Poetzsch unter Druck gesetzt. Im Aktenblatt der Alsterdorfer Anstalten, das bis zum 7. April 1936 den gesamten Schriftverkehr, Gutachten sowie Beurlaubungen aufführt, ist mit Datum vom 27. November 1934 vermerkt:

"Den Vater um Mittlg gebeten, warum P. nicht v. Urlaub zurückgekehrt.
29.11.1934 Schreiben ds. Vaters, hat Entlassungsantrag ad. Fürs. gestellt.
10.12.1934 Mittlg ad. Vater betr. Zuführung s. Sohnes.
11.12.1934 Ärztl. Gutachten.
31.12.1934 Bescheinigung, P.P. am 25.11.1934 entlassen.
20.2.1935 Entlassungsanzeige ad. Fürs.wesen.
29.3.1935 Überweisung a. d. Fürs.wesen.
29.3.1935 Fürs.wesen übernimmt d. Kosten bis 30.4.1936.
9.4.1935 Ärztl. Gutachten
9.4.1935 P.P. ist in Gruppe II aufzunehmen."

Der Vater hatte am 29. November 1934 an die Direktion in Alsterdorf geschrieben: "Ich habe mich am letzten Sonntag im Büro erkundigt ob irgend etwas vorläge, wenn ich den Jungen ganz zu Hause nehmen würde. Es wurde mir erwiedert, es liegt nichts vor, nur müßte ich mich an das Fürsorgewesen Rentzelstr. wenden." Auf deren Antwort warte er noch, und wenn er bis zum 5. Dezember 1934 nichts gehört habe, werde er seinen Sohn "vorläufig" wieder nach Alsterdorf bringen.

Was genau von Dezember 1934 bis März 1935 vorgefallen ist, wissen wir nicht. Dass es für eine achtköpfige Hafenarbeiterfamilie unter den damals herrschenden Bedingungen unglaublich schwer gewesen sein muss, mit ihrem geistig behinderten Kind zu leben und ihm gerecht zu werden – nicht nur ohne jegliche Hilfs- oder Förderangebote, sondern im Gegenteil mit dem Stigma von Ausgrenzung und Verfolgung beladen – kann man sich vorstellen.

Im Gutachten des Alsterdorfer Oberarztes Kreyenberg von 1936 wird deutlich, nach welchen Kriterien die Patienten beurteilt wurden: Nach ihrer Arbeitsfähigkeit und ihrer Pflegeleichtigkeit. Nur einige Jahre später entschied dieser Wertmaßstab über das Weiterleben der Patienten. Über Paul Poetzsch urteilte Kreyenberg: "zu einer geregelten Beschäftigung ist er nicht zu gebrauchen"; er ist "verträglich und bereitet keine Schwierigkeiten".

Viel mehr ist über Paul Poetzschs Leben aus der Akte nicht zu erfahren. 1938 teilte das Landesfürsorgeamt mit, dass Kreyenberg die Anstaltspflegebedürftigkeit von Paul Poetzsch bis zum 1. August 1943 anerkannt habe.

Zudem ist noch der Ausmusterungsschein des Wehrbezirkskommandeurs vom 6. September 1938 in der Akte enthalten, der über Paul Poetzsch urteilt: "ist völlig untauglich zum Dienst in der Wehrmacht. Er scheidet aus dem Wehrpflichtverhältnis aus."

Ende der 1930er Jahre nahm die Aussonderung arbeitsunfähiger Behinderter und alter Menschen tödliche Ausmaße an. Zur effektiven Abwicklung wurden deshalb 1939 aus Berlin an alle Anstalten so genannte Meldebögen ausgegeben, um arbeitsunfähige und schwierige Patienten zu erfassen. Das Reichsministerium des Inneren hatte verschiedene Tarnorganisationen geschaffen, z. B. die so genannte T 4, benannt nach ihrer Adresse in der Tiergartenstraße 4, und die GeKraT, Gemeinnützige Krankentransport-Gesellschaft, die die Transporte ausführte. 1941 versandte der Direktor der Alsterdorfer Anstalten, Pastor Friedrich Lensch, 465 (nach eigenen Angaben in seinem Prozess 1973) ausgefüllte Meldebögen nach Berlin. Von 1941–1944 wurden aus Alsterdorf 629 Patienten deportiert, davon 378 aufgrund von Meldebögen. Ende 1945 waren 508 Tote zu beklagen.

Paul Poetzsch blieb bis zum August 1943 in Alsterdorf. Seine Familie lebte zu der Zeit in der Schmachthägerstraße 13, II. Stock, an der Grenze von Barmbek zu Steilshoop.

Am 7. August 1943 wurde Paul Poetzsch aus Alsterdorf abtransportiert. Die Verlegung war auf Ersuchen von Pastor Lensch zustande gekommen, der sie mit der Bombardierung Hamburgs und gravierenden Platzproblemen in den Alsterdorfer Anstalten begründete. In Paul Poetzschs Akte hieß das: "ausgetreten 7.8.1943, verlegt nach Weilmünster"; auf einem anderen Blatt steht: "7.8.1943 Eichberg". Am 2.10.1944 wurde er von dort nach Hadamar deportiert und dort am 7.11. 1944 getötet.

Anhand der Patientenakten aus Langenhorn/Hamburg wurde errechnet, dass fast kein Patient, der nach Hadamar deportiert wurde, dort länger als wenige Wochen am Leben blieb. In der Krankenliste aus Hadamar wurde im Falle von Paul Poetzsch als Todesursache Rippenfellentzündung angegeben und als Beerdigungsort der Anstaltsfriedhof.

Man machte sich dort nicht die Mühe, korrekte Daten einzutragen: Sein Geburtsdatum wurde mit 20.4.1920 angegeben, seine Religion mit "kt".

Paul Poetzsch wurde im Alter von 25 Jahren getötet. Sein Geburtstag war der 24. April 1919, und er wurde im selben Jahr evangelisch getauft.

© Ulrike Hoppe

Quellen: Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf, Sonderakte 124, Paul Poetzsch; Angelika Ebbinghaus/Heidrun Kaupen-Haas/Karl Heinz Roth (Hrsg.), Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg, Hamburg 1984 (darin: Friedemann Pfäfflin, Zwangssterilisation in Hamburg; Andrea Brücks/Christine Rothmaler, "In dubio pro Volksgemeinschaft"; Dieter Kuhlbrodt, "Verlegt nach … und getötet"); Michael Wunder/Ingrid Genkel/Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr (Hrsg. Vorstand der Alsterdorfer Anstalten Pastor Rudi Mondry), Hamburg 1987.

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