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Bereits verlegte Stolpersteine



Porträt Herbert Oettinger
Herbert Oettinger 1928
© Privat

Herbert Oettinger * 1896

Haynstraße 2 (Hamburg-Nord, Eppendorf)


HIER WOHNTE
HERBERT OETTINGER
JG. 1896
FLUCHT 1933 HOLLAND
INTERNIERT WESTERBORK
DEPORTIERT 1944
THERESIENSTADT
1944 AUSCHWITZ
ERMORDET

Weitere Stolpersteine in Haynstraße 2:
Betty Oettinger, Elinor Oettinger, Ralf Joseph Oettinger

Herbert Oettinger, geb. 19.1.1896 in Hamburg, deportiert 26.2.1944 aus den Niederlanden nach Theresienstadt, deportiert 28.9.1944 nach Auschwitz

Haynstraße 2 (Eppendorf)

Der Name Oettinger taucht erstmalig 1851 im Hamburger Adressbuch auf: "H. N. J. Oettinger, Commissions-Geschäfte und Blutegel-Handlung en gros, Rödingsmarkt 20". Heimann Noa Oettinger (1823–1888), 1849 aus seinem Geburtsort Rakwitz (polnisch Rakoniewice) in der preußischen Provinz Posen nach Hamburg zugezogen, hatte im April 1850 seine Firma gegründet. Salomon Calvary (1833–1908) trat im Mai 1855 als Teilhaber in die Firma ein, die nun unter dem Namen H. N. Oettinger & Co. ihr Gewerbe auf den Im- und Export von Rohtabak aus Russland und der Türkei verlagerte. Bereits nach eineinhalb Jahren schied Salomon Calvary aus der Firma aus.

1855 erwarb Heimann Noa Oettinger das Hamburger Bürgerrecht. Er hatte nach der Heirat um 1855 mit Clara Jaffé (1835–1858), aus dieser Ehe stammten die beiden Töchter Julie und Chaje Clara, 1861 in zweiter Ehe in Posen dessen jüngere Schwester Emma Jaffè (1837–1917) geheiratet, mit der er sieben Kinder bekam, darunter die vier Söhne Joseph, Martin, Ernst und Moritz Oettinger. Die Familie wohnte am Rödingsmarkt 70 (1861–1862), Deichstraße 38 (1863), Grindelallee 25 (1864–1866), Dammtorstraße 13 (1867–1868), Großer Burstah 52 (1869–1871), Großer Burstah 20 (1872–1877), Ferdinandstraße 25 (1877–1878) und Hohe Bleichen 46 (1879–1888). Heimann Noa Oettinger wurde 1888 in seinem Geburtsort Rakwitz (Posen) beigesetzt, wo auch seine Eltern Joseph Oettinger und Esther Oettinger, geb. Lazar, beide 1861 beerdigt worden waren. Emma Oettinger, geb. Jaffé fand hingegen ihre letzte Ruhestätte 1917 auf dem Jüdischen Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf.

Herbert Oettinger wurde 1896 in Hamburg als Sohn des Kaufmanns Joseph Oettinger (1863–1929) und der Fürtherin Recha Oettinger, geb. Rau (1872–1957) geboren. Die Eltern hatten im Januar 1895 in der Hansestadt geheiratet, wo bereits eine Schwester der Braut lebte. Trauzeugen waren Martin Oettinger (30 Jahre, Hallerstraße 44) und Seligmann Goldschmitt (43 Jahre, Hallerstraße 40). Nach Herbert erblickten die Schwestern Margarete "Grete" (1900–1998) und Ruth (1911–1985) das Licht der Welt. Joseph Oettinger hatte in der Hallerstraße 44 I. Stock (1890–1894) gewohnt, nach der Heirat lauteten die Wohnadressen Klosterallee 25 (1895–1903), Jungfrauenthal 8 (1904–1911) und Oderfelderstraße 25 (1912–1929, heute Hausnummer 42). Joseph Oettinger gehörte der Deutsch-Israelitischen Gemeinde Hamburgs an und amtierte zeitweilig als Vorstandsmitglied der orthodoxen Hauptsynagoge Hamburgs.

Herbert Oettinger besuchte die Talmud Tora Schule in Hamburg; im Ersten Weltkrieg wurde er als Soldat eingezogen und kämpfte an der Westfront. Nach dem Krieg ließ er sich 1919 in Amsterdam nieder und eröffnete dort eine eigene Tabakimportfirma, am 29. Juni 1925 nahm er die niederländische Staatsbürgerschaft an.
Seine fünf Jahre jüngere Schwester Margarete besuchte die Israelitische Höhere Mädchenschule (Lyzeum) in der Bieberstraße 4 (Rotherbaum) und studierte von Oktober 1921 bis März 1922 Soziologie an der Frankfurter Universität, schloss das Studium aber nicht ab und heiratete 1923.
Die fünfzehn Jahre jüngere Schwester Ruth absolvierte ab April 1931 in Hamburg eine Ausbildung zur Volksbibliothekarin bei der Öffentlichen Bücherhalle (Kohlhöfen). Zum Abschluss ihres Volontariats in der Eppendorfer Ausgabestelle der Bücherhalle wurde ihr im März 1931 bescheinigt "zugleich begabt mit einem guten Intellekt und in neuerer Literatur sehr belesen" zu sein. Nachdem ihr am 13. April 1933 die Teilnahme an der Büchereischule in Stettin wegen ihrer jüdischen Abstammung verweigert wurde, emigrierte sie noch im selben Monat nach England (1949 wanderte sie weiter in die USA).

Joseph Oettinger (1863–1929) und seine Brüder Martin Oettinger (1864–1925) und Ernst Oettinger (1867–1936) führten die Im- und Exportfirma für Rohtabak H. N. Oettinger & Co. (Kehrwieder 6, Freihafen) ihres Vaters Heimann Noa Oettinger (1823–1888) fort. Die Firma war an der Hamburger Börse vertreten, ihr Platz lautete zeitweilig "Pfeiler 22a Sitz H". Joseph Oettinger war anscheinend für die An- und Verkaufsverhandlungen vor Ort zuständig, wie die fast jährlich ausgestellten Reisepässe belegen; dabei lautete das Reiseziel meist Russland. Martin Oettinger gilt in der Familienüberlieferung als die leitende Persönlichkeit des Unternehmens, Ernst Oettinger als der Kreative. Sie engagierten sich auch in den jüdischen Einrichtungen: Ernst Oettinger gehörte dem Vorstand des Krankenhauses der Deutsch-Israelitischen Gemeinde Hamburg (u.a. 1920–1929) sowie dem Vorstand der Israelitischen Töchterschule Hamburg (u.a. im Schuljahr 1924/1925) an.

Geschäftliche Kontakte bestanden u.a. in die Niederlande, wo Joseph Oettinger im September 1928 beim Bankhaus Jules Roos N.V. (Amsterdam) einen Kredit über 35.000 holländische Gulden (= 47.700 Reichsmark) aufgenommen hatte. Nach dem Tod seines Vaters trat auch Herbert Oettinger 1929 in das Familienunternehmen als Gesellschafter ein; im gleichen Jahr wurde er eigenständiges Mitglied der Deutsch-Israelitischen Gemeinde Hamburg und des orthodoxen Synagogenverbandes.

Herbert Oettinger und Betti Ettinghausen (geb. 14.2.1907 in Frankfurt/Main) heirateten am 27. November 1928 in Frankfurt/Main. Betti war als zweites Kind von Edmund Seligmann Ettinghausen (1881–1943) und Selma Ettinghausen, geb. Stern (1883–1943) in Frankfurt/Main geboren und nach ihrer Großmutter väterlicherseits benannt worden. Sie hatte zwei Geschwister, Richard Ettinghausen (1906–1979) und Alice Helene Wreschner, geb. Ettinghausen (1910–1946). Zum Zeitpunkt der Eheschließung wohnte Familie Ettinghausen in Frankfurt/Main in der Palmstraße 11 in der Nähe der Friedberger Anlage. Edmund Ettinghausen war seit 1922 gemeinsam mit seinem Bruder Felix Ettinghausen und Sally Rosenberg Inhaber einer bekannten Münzhandlung.

Herbert und Betti Oettinger wohnten nach ihrer Heirat laut Hamburger Adressbuch in der Haynstraße 2/4 (Eppendorf). Für den Bau dieses Doppeletagenhauses (1923/1924) der Architekten Hans und Oskar Gerson hatten sich zehn Gesellschafter zur "Grundstücksgesellschaft Haynstraße mbH" zusammengeschlossen und damit auch ein Wohnrecht an einer Wohnung erworben. Dieses Modell der "Mietergesellschaft" bzw. "Mietkaufmodell" stammte von den Architekten selbst. Herbert und Betti Oettinger hatten ihre Anteile gekauft. "Das Mietshaus (Haynstraße 2/4) hat für seine großbürgerlichen Wohnungen eines der schönsten Portale der zwanziger Jahre in Hamburg aufgebaut, expressionistisch dekorativ aus blau glasierten Klinkern (…)." Oettingers besaßen also neben zwei Geschäftsanteilen über insgesamt 5.400 Reichsmark ein Wohnrecht an der Wohnung Haynstraße 2, 1. Stock links. Nach der Emigration von Herbert Oettinger übernahm seine Mutter Recha Oettinger die Anteile und bezog die Wohnung. Unter dem Verfolgungsdruck verkaufte sie die Anteile im Dezember 1937 an ein Mitglied der Reemtsma-Geschäftsleitung.

Vor dem Eintritt von Herbert Oettinger in das Geschäft des Großvaters ließ er im Güterstandsregister des Amtsgerichts Hamburg am 31. Dezember 1928 die Vereinbarung einer Gütertrennung mit seiner Ehefrau Betti Oettinger eintragen. Damit haftete das Vermögen der Ehefrau nicht für die Firma. Am 7. Januar 1929 wurden Herbert Oettinger und sein Cousin Hellmuth Oettinger (1902–1957), ein Sohn von Ernst Oettinger, als Gesellschafter (Teilhaber) in das Handelsregister eingetragen. Im Mai 1932 wurde die Firma aufgelöst und der Kaufmann Samuel Cohn (1868–1948) von der Wein- und Spirituosen-Importfirma Johannes A. Petersen & Co. als Liquidator eingesetzt; er war mit Martha Oettinger (1871–1912) verheiratet gewesen, einer Schwester von Joseph Oettinger. Im Oktober 1931 hatte Hellmuth Oettinger bereits unter seinem Namen eine Firma für Rohtabak gegründet (Pickhuben 1) und sich zunehmend aus dem Familienbetrieb zurückgezogen; ab 1936 hielt er sich als selbständiger Kaufmann in Belgien auf, die Firma wurde im Mai 1937 im Hamburger Handelsregister gelöscht, im Mai 1939 verzog er zu seiner Schwester nach Amsterdam.

Herbert Oettinger besaß – wie oben erwähnt – bereits in Amsterdam eine eigene Tabakfirma und war im Frühjahr 1932 dorthin verzogen. Und auch Hans Norbert Oettinger (1900–1944), ein Sohn von Martin Oettinger, hatte 1930 in Hamburg eine eigene Tabakhandelsfirma gegründet (Hans N. Oettinger & Co.); nach seiner Emigration nach Amsterdam gründete er dort 1934 die Firma Orientaalse Tabakshandel N.V.

Margarete Loewenberg, geb. Oettinger emigrierte 1938 mit ihrem Ehemann, dem Lehrer Ernst Loewenberg (geb. 15.6.1896 in Hamburg) und ihren drei Söhnen in die USA. Ihr Ehemann war von 1921 bis zu seiner Entlassung 1934 Studienrat an der Lichtwark-Schule in Hamburg gewesen und hatte danach vom 1. April 1934 bis zum 30. September 1938 als Lehrer an der Talmud Tora Schule gearbeitet. Rechtsanwalt Kurt O. Stork (1897–1958) regelte bis zu seinem Berufsverbot am 30. November 1938 als Bevollmächtigter die finanziellen Angelegenheiten des Ehepaars Loewenberg in Hamburg (er emigrierte mit Ehefrau und Kindern 1939 in die Niederlande und noch im gleichen Jahr in die USA).

Herbert und Betti Oettinger waren im Frühjahr 1932 mit ihrer zweieinhalbjährigen Tochter Elinor (geb. 8.9.1929 in Hamburg) in die Niederlande nach Amsterdam verzogen, die Anmeldung dort erfolgte erst am 13. Juni 1932 für die Michelangelostraat 45. Ihr Sohn Ralf wurde hier im September 1933 geboren. Nach der Etablierung der NS-Diktatur in ihrem Heimatland gab es für Herbert und Betti Oettinger endgültig keine Rückkehr-Perspektive mehr. Sie waren schon seit 1932 bemüht, sich in den Niederlanden ein neues Leben aufzubauen, alle Familienmitglieder besaßen durch Herbert Oettingers niederländische Staatsbürgerschaft diese ebenfalls. Herbert Oettinger arbeitete als selbständiger Kaufmann mit eigener Firma im Bereich Tabakhandel (Vorburgwal 227). Elinor besuchte die fortschrittliche nichtkonfessionelle 1. Montessorischule (Corellistraat 1) und Ralf die Daltonschool. Die Entscheidung für einen dauerhaften Aufenthalt in den Niederlanden schloss für die Familie weitere Emigrationsbemühungen nach Großbritannien oder die USA aus.

Der Einmarsch der Wehrmacht in die neutralen Niederlande im Mai 1940 bedeutete auch für Oettingers das Ende eines rechtlich gesicherten Lebens und gesellschaftlicher Teilhabe. Die Landesgrenzen wurden von der Wehrmacht abgeriegelt und Fluchtbewegungen u.a. per Schiff nach Großbritannien gewaltsam unterbunden. Die NS-Besatzer brachten ihre Rassenideologie, ihren Terror und ihre Erfahrungen mit, wie ein demokratisches Staatswesen zu okkupieren und dienstbar zu machen war. Elinor besuchte nun in Amsterdam (im Barlaeus Lyceum, Weteringschans 255a/Ecke Reguliersgracht) die 1927 vom Verein "Kennis en Godsvrucht" gegründete "Joodse M.U.L.O.". Schon seit 1941 durften Juden in den okkupierten Niederlanden nicht mehr die staatlichen Schulen besuchen. Die NS-Besatzer befahlen im Frühjahr 1943 die Verlegung der Schule in einen östlichen Stadtbezirk Amsterdams. Aufgrund der unsicheren Verhältnisse in der besetzten Stadt und des langen Schulwegs, schlossen sich einige jüdische Eltern zusammen und ließen ihre Kinder zuhause unterrichten. Nach anfänglichen Zweifeln besuchte jedoch Elinor die "Joodse M.U.L.O." am neuen Standort – sie wollte die Schule und ihre Klassenkameraden nicht missen. In der Schule freundete sie sich mit Robert Heilbut an, ebenfalls ein Emigrantenkind aus Deutschland.

Auch Herberts verwitwete Mutter Recha Oettinger emigrierte laut Akte des Hamburger Oberfinanzpräsidenten im Januar 1938 nach Amsterdam, wo sie sich am 5. Februar 1938 mit der Adresse Euterpestraat 108 (Huize Lindemann) anmeldete. Der mit Herbert Oettinger verwandte Rechtsanwalt Kurt O. Stork (geb. 13.3.1897), Ehemann von Paula Stork, geb. Oettinger (1901–1974), einer Tochter von Ernst Oettinger, der Kanzleiräume am Neuen Wall 10 IV. Stock (Gutrufhaus) führte, wurde zum Bevollmächtigten ernannt. Er stellte den Ausreiseantrag Recha Oettingers bei den deutschen Behörden, nachdem sie bereits ausgewandert war. Ihre wertvollen Möbel wurden über das Auktionshaus Carl F. Schlüter (Alsterufer 12) versteigert. Rechtsanwalt Stork transferierte in der Folgezeit von ihrem Sperrkonto Unterstützungszahlungen an Familienangehörige, die noch in Deutschland lebten.

Herbert Oettingers Schwiegervater Edmund Ettinghausen (geb. 5.4.1881 in Frankfurt/Main) flüchtete am 26. November 1938 zusammen mit seiner Ehefrau Selma Ettinghausen aus Frankfurt/Main (Palmstraße 11) zu Tochter und Schwiegersohn nach Amsterdam. Ihm gehörte zusammen mit seinem Bruder Felix Ettinghausen (geb. 3.6.1892, emigriert 1939), die angesehene Münzhandlung Sally Rosenberg oHG, die sie im August 1938 zwangsweise hatten schließen müssen. Im Novemberpogrom 1938 wurde die Synagoge Friedberger Anlage in direkter Nähe seiner Wohnung zerstört. In Amsterdam wohnten sie rund eineinhalb Jahre in der Rubensstraat 38, dann für zwei Monate in der Euterpestraat 173 und ab dem 3. September 1940 in der Michelangelostraat 45.

Nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Mai 1940 sahen sich die deutschen Jüdinnen und Juden auch hier den antijüdischen Verfolgungsmaßnahmen und Ausplünderungen ausgesetzt. Die Systematik und Akribie des Vorgehens ließ den Opfern so gut wie keine Ausweichmöglichkeit; bei Zuwiderhandlung drohten Verhaftung und Lagereinweisung. Ein halbes Jahr nach der Okkupation wurden landesweit die Vermögen erfasst. Am 22. Oktober 1940 trat eine Verordnung in Kraft, nach der Juden ihre Geschäfte und Geschäftsbeteiligungen mit den jeweiligen Werten anzumelden hatten. Am 8. August 1941 legte die Verordnung "zur Behandlung jüdischen Kapitalvermögens" fest, dass Wertpapierdepots und Guthaben von Juden auf das Bankhaus Lippmann Rosenthal & Co. "Liro" (Amsterdam), das seit der Besetzung unter deutscher Verwaltung stand, zu übertragen waren. Jüdische Unternehmen, Vereine und Privatpersonen mussten ab einem Vermögenswert von zehntausend Gulden sowie einem Jahreseinkommen von dreitausend Gulden diese Werte registrieren lassen. Wie in NS-Deutschland hatten sich die jüdischen Konto- und Depot-Inhaber Geldabhebungen und Verkäufe genehmigen zu lassen. Im Mai 1942 wurden die Vorschriften ausgeweitet, nun mussten Oettingers bei der "Raubbank Liro" Schmuck, Gold- und Silbergegenstände sowie Kunstgegenstände und Antiquitäten dort abgeben.

Eine Verordnung über die Meldepflicht von Juden trat am 27. Januar 1941 in Kraft, auf deren Grundlage die Kennkarten ("identiteitsbewijzen") mit einem "J" gekennzeichnet wurden. Ab Mai 1942 mussten Jüdinnen und Juden nun auch in den Niederlanden einen gelben Stern an ihrer Kleidung zu tragen. Die deutsche Besatzungsmacht forderte Juden am 4. Juli 1942 in Aufrufen auf, sich im Lager Westerbork, das nun unter deutscher Leitung stand, zu "Arbeitseinsätzen nach Deutschland" zu melden. Als dies nur wenige Personen befolgten, fand zehn Tage später die erste große Razzia statt. Systematisch wurden in den Folgemonaten nun im "Durchgangslager" Westerbork die Jüdinnen und Juden aus den Niederlanden interniert und mit Zügen in Vernichtungslager in den eroberten osteuropäischen Gebieten weiterdeportiert.

Herbert Oettinger gehörte als "Districtsleider Zuid HAV" (Bachstraat 1) zu den Personen des Amsterdamer Judenrates, die die "Emigration" der Gemeindemitglieder organisatorisch zu unterstützen hatte (HAV = Hulp aan Vertrekkenden = Hilfe für abfahrende Personen). Auch bemühte sich der Judenrat, den Insassen des Lagers Westerbork mit Kleidung und Verpflegung zu helfen, da die staatlichen Sozialdienste auf Anweisung der Besatzer ihre Hilfe für Juden eingestellt hatten.

Durch Herbert Oettingers Tätigkeit für den Amsterdamer Judenrat ("Joodsche Raad") war die Familie vorläufig von den Deportationen zurückgestellt. Doch am 20. Juni 1943 wurden nun auch die meisten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Judenrates im Durchgangslager Westerbork interniert. Inzwischen war bereits ein Großteil der niederländischen Juden deportiert worden und für die weitere Organisationsarbeit wurden nur noch wenige Arbeitskräfte benötigt. Auch Familie Oettinger wurde am 20. Juni 1943 in Amsterdam verhaftet und im Sammellager Westerbork interniert.

Ihre zurückgelassene Wohnungseinrichtung wurde umgehend beschlagnahmt. In den 1950er-Jahren gab der Testamentsvollstrecker Ernst Loewenberg in einem Entschädigungsverfahren vor dem Landgericht Hamburg an, Möbel und Hausrat von Familie Oettinger seien 1943 bei den Amsterdamer Speditionsfirmen De Gruyter & Co. und Transport-Mij. ‚Holland‘ eingelagert und im März 1944 vom "Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR)" beschlagnahmt worden. Aufgabe dieser NS-Organisation, unter Leitung des NSDAP-Ideologen Alfred Rosenberg, war der Raub von Kulturgütern im Besitz von Juden und Freimaurern in den von der Wehrmacht besetzten Ländern. Wer sich der Wohnungseinrichtung der Oettingers bereicherte, lässt sich mangels entsprechender Dokumente nicht mehr belegen – der Diebstahl steht aber außer Frage.

Aus dem Lager Westerbork wurden Edmund und Selma Ettinghausen, die am 11. März 1943 verhaftet worden waren, am 25. Mai 1943 ins Vernichtungslager Sobibor deportiert und dort vermutlich gleich nach ihrer Ankunft am 28. Mai 1943 ermordet.

Die vierköpfige Familie Oettinger wurde am 25. Februar 1944 aus dem Lager Westerbork ins Getto Theresienstadt deportiert, dies war jedoch nur eine Zwischenstation im nationalsozialistischen Lagersystem. Herbert Oettinger wurde am 28. September 1944 weiter ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert und vermutlich gleich nach der Ankunft ermordet. Seine Deportation nach Auschwitz wurde mit dem Hinweis auf einen angeblichen Arbeitseinsatz in Deutschland verschleiert.
Betti Oettinger und die Kinder Elinor und Ralf wurden im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert und dort direkt nach der Ankunft in den Gaskammern ermordet.

Recha Oettinger, am 1. November 1943 ins Lager Westerbork eingewiesen und am 16. September 1944 ins Getto Theresienstadt deportiert, wurde dort von der sowjetischen Roten Armee befreit. Im August 1945 traf sie wieder in Amsterdam ein, realisierte dass die Familie ihres Sohnes ermordet worden war und emigrierte in die USA zu ihrer Tochter Margarete.

Für Herbert, Betti, Elinor und Ralph Oettinger sowie Edmund und Selma Ettinghausen wurden 2016 in Amsterdam (Michelangelostraat 45) Stolpersteine verlegt. In Hamburg waren für Familie Oettinger im Juli 2009 Stolpersteine vor dem Haus Haynstraße 2 (Eppendorf) verlegt worden.

An Herberts Cousin Walter Oettinger (1905–1943) erinnert ein Stolperstein in der Straße Bei der Matthäuskirche 5 (Winterhude). Für Elisabeth "Lotte" Oettinger, geb. Oettinger (1909–1940), Tochter von Ernst Oettinger, ihren Ehemann (und Cousin) Friedrich "Fritz" Oettinger, Sohn von Martin Oettinger, und die beiden Kinder liegen Stolpersteine in der Maria-Louisen-Straße 104 (Winterhude). Stolpersteine in der Isestraße 113 tragen die Namen von Herberts Tante Clara (Claire) Oettinger, geb. Seckel (1872–1945) und deren Sohn Hans Norbert Oettinger (1900–1944).


Stand: Juni 2019
© Björn Eggert

Quellen: Hamburger Staatsarchiv (StaH) 213-13 (Landgericht Hamburg, Wiedergutmachung), 16390 (Jewish Trust Corporation für Recha Oettinger); StaH 213-13 (Landgericht Hamburg, Wiedergutmachung), 20350 (Recha Oettinger); StaH 231-7 (Handelsregister), A 1 Band 22 (H. N. Oettinger HR A 5718); StaH 231-7 (Handelsregister), B 1965-138 (H. N. Oettinger); StaH 232-1 (Vormundschaftsbehörde), Serie I, 9028 (Hermann Noa Oettinger, 1861); StaH 314-15 (Oberfinanzpräsident), F 1894 (Recha Oettinger geb. Rau); StaH 314-15 (OFP), F 1548 (Dr. Ernst Loewenberg u. Margarete Loewenberg geb. Oettinger); StaH 332-3 (Zivilstandsaufsicht 1866–1875), A Nr. 32 (Geburtsregister 3027/1867 Ernst Oettinger); StaH 332-5 (Standesämter), 242 u. 997/1888 (Sterberegister 1888, Heimann Noa Oettinger); StaH 332-5 (Standesämter), 8571 u. 20/1895 (Heiratsregister 1895, Joseph Oettinger u. Recha Rau); StaH 332-5 (Standesämter), 13277 u. 2970/1900 (Geburtsregister 1900, Margarete Oettinger); StaH 332-5 (Standesämter), 8011 u. 491/1912 (Sterberegister 1912, Martha Cohn geb. Oettinger); StaH 332-5 (Standesämter), 8039 u. 38/1917 (Sterberegister 1917, Emma Oettinger geb. Jaffé); StaH 332-5 (Standesämter), 8097 u. 320/1929 (Sterberegister 1929, Joseph Oettinger); StaH 332-5 (Standesämter), 1009 u. 320/1933 (Sterberegister 1933, Dr. med. Moritz Oettinger); StaH 332-7 (Staatsangehörigkeitsaufsicht), A I e 40 Band 7 (Bürger-Register 1845–1875 L–R) Heinr. Noa Oettinger (Nr. 470/ 20.4.1855); StaH 332-7 (Staatsangehörigkeitsaufsicht), A I e 40 Band 10 (Bürger-Register 1876-1896 L-Z) Jos. Oettinger (Nr. 17041/6.6.1890), Mart. Oettinger, Gerichtsschreibergehilfe (Nr. 19969/21.10.1892); StaH 332-7 (Staatsangehörigkeitsaufsicht), A I e 40 Band 9 (Bürgerregister 1876–1896, A-K, Nr. 10751/1883 Seligmann Goldschmitt geb. 26.7.1851 in Heidingsfeld); StaH 332-8 (Meldewesen), K 6684 (Alte Einwohnermeldekartei 1892–1925), Martin Oettinger; StaH 332-8 (Meldewesen), A 24 Band 120 (Reisepassprotokolle 1914, Nr. 1467 Herbert Oettinger); StaH 351-11 (Amt für Wiedergutmachung), 49467 (Elinor Oettinger); StaH 351-11 (Amt für Wiedergutmachung), 36620 (Ruth Oettinger); StaH 522-1 (Jüdische Gemeinde), 992b (Kultussteuerkartei der Deutsch Israelitischen Gemeinde Hamburg) Hellmuth Oettinger, Herbert Oettinger, Joseph Oettinger/Recha Oettinger; Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Heiratsurkunde 1208/1928 Frankfurt/Main (Herbert N. Oettinger u. Betti Ettinghausen); Universität Frankfurt/Main, Universitätsarchiv (Studentenakte Margarete Oettinger mit Anmeldekarte, Erkennungskarte mit Lichtbild und Abgangszeugnis); Institut für Stadtgeschichte Frankfurt/Main, Gewerbesteuerkartei (Sally Rosenberg oHG), Hausstandsbuch (Emmerich-Josef-Str. 39 I); Jüdisches Museum Frankfurt/Main (Informationen zu Edmund Ettinghausen); Erinnerungszentrum Kamp Westerbork, Archiv (Herbert Noa Oettinger, Betti Oettinger geb. Ettinghausen, Elinor Oettinger, Ralf Oettinger, Recha Oettinger geb. Rau, Edmund Ettinghausen, Selma Ettinghausen geb. Stern, Berta Ettinghausen geb. Feitler); Bundesarchiv Koblenz, Gedenkbuch; Jüdischer Friedhof Hamburg-Ohlsdorf, Gräberverzeichnis (Joseph Oettinger G 10, Martin Oettinger C9-15, Gertrud Henriette Oettinger C9-13, Ernst Oettinger O3-4, Esther Oettinger O3-3); Handelskammer Hamburg, Handelsregisterinformationen, (H. N. Oettinger & Co, HR A 5718; Hans N. Oettinger, HR A 37552 und später HR B 1719; Hellmuth Oettinger, HR A 37249); Hamburger Börsenfirmen 1910, S. 488 (H.N. Oettinger & Co, Kehrwieder 6, Inh. Joseph Oettinger, Martin Oettinger, Ernst Oettinger, Pfeiler 50 Sitz a); Hamburger Börsenfirmen, 1926, S. 773 (H. N. Oettinger & Co, Kehrwieder 6, Inhaber Joseph u. Ernst Oettinger); Hamburger Börsenfirmen, Hamburg 1935, S. 633 (Hellmuth Oettinger, gegr. 1931, Rohtabak, Pickhuben 1); Adressbuch Hamburg (H. N. Oettinger), 1851, 1862–1864, 1866–1872, 1874–1875, 1877–1879, 1882, 1885, 1888; Adressbuch Hamburg (Joseph Oettinger) 1890, 1893–1895, 1900, 1902–1904, 1907, 1910–1912, 1914, 1920; Adressbuch Hamburg (Herbert Oettinger) 1930–1932; Telefonbuch Hamburg 1931 (Oettinger); Georg Czapski, Die Judengesetzgebung der deutschen Verwaltung waehrend der Besetzung der Niederlande im Zweiten Weltkrieg, Den Haag ca. 1945, S. 7–8, 14, 18, 20–21; Martin Gilbert, Endlösung – Die Vertreibung und Vernichtung der Juden – ein Atlas, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 106, 160 (Westerbork); Hermann Hipp, DuMont-Kunst-Reiseführer Hamburg, Köln 1990, S. 396 (Haynstraße 2–4); Claus-Dieter Krohn/Patrik von zur Mühlen/Gerhard Paul/ Lutz Winckler (Hrsg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, 2008, S. 321–331 (Niederlande); Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste Magdeburg (Hrsg.), Kulturgüter im Zweiten Weltkrieg, Verlagerung – Auffindung – Rückführung, Magdeburg 2007, S. 27, 29–30 (Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg); Frank Meier Loewenberg, The Family of Levi and Friederike Lowenberg, Jerusalem 1999 (Margarete Loewenberg geb. Oettinger); Frank Meier Loewenberg, H.N.Oettinger Family Tree, Jerusalem 2004; Ina Lorenz, Die Juden in Hamburg zur Zeit der Weimarer Republik, Hamburg 1987, S. 389, 502, 514 (Ernst Oettinger); Heiko Morisse, Jüdische Rechtsanwälte in Hamburg, Ausgrenzung und Verfolgung im NS-Staat, Hamburg 2003, S. 162 (Dr. Kurt Oswald Stork); Ursula Randt, Die Talmud Tora Schule in Hamburg 1805 bis 1942, Hamburg 2005, S. 251/252 (Ernst Loewenberg); Ursula Randt, Zur Geschichte des jüdischen Schulwesens in Hamburg, in: Ina Lorenz (Hrsg.), Zerstörte Geschichte. Vierhundert Jahre jüdisches Leben in Hamburg, Hamburg 2005, S. 94 (Israelitische Höhere Mädchenschule, Fanny Philip); Jürgen Sielemann, Aber seid alle beruhigt. Briefe von Regina van Son an ihre Familie 1941–1942, Hamburg 2005, S. 135, 138, 140–143, 145-147, 150, 164, 170, 179, 206/207; Wolfgang Voigt, Hans und Oskar Gerson. 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Volendam von Rotterdam nach New York, 1942 tätig bei Federal Jewish Fund, 1942 Einzugsregistrierung US-Armee, 1945 US-Einbürgerungsregister); www.stolpersteine-hamburg.de (Hugo Cohen, Tätigkeit für Judenrat Amsterdam; Moritz Bacharach, Amsterdam; Walter Oettinger; Hans Norbert Oettinger); Bericht von Robert H. (Israel) 2004 (Elinor Oettinger u. Joodse Mulo); Informationen und Fotos von Frank Loewenberg, 2016 und 2019.

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