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Jan Woudstra * 1921

Wilhelm-Raabe-Weg 23 vor ehemaligem Lager (Hamburg-Nord, Fuhlsbüttel)


Zwangsarbeiter
ärztliche Hilfe verweigert
tot 23.10.1944

Jan Woudstra, geb. 19.8.1921 in Rotterdam, gestorben am 23.10.1944 in der Staatskrankenanstalt Hamburg-Langenhorn (Allgemeines Krankenhaus Langenhorn)

Wilhelm-Raabe-Weg 23

Der niederländische Zwangsarbeiter Jan Woudstra kam Ende 1943 unfreiwillig aus seiner Heimat nach Hamburg. In den besetzten Niederlanden galt seit Frühjahr 1942 für alle geeigneten Männer der Geburtsjahrgänge 1918–1924 prinzipiell eine Einsatzpflicht in Deutschland. Sie wurde, wie Woudstras ehemalige Zwangsarbeiterkollegen Johan de Groot und Theo Massuger berichteten, ab Frühjahr 1943 rigide gegen den Widerstand der Betroffenen durchgesetzt. So musste auch der junge Rotterdamer, über dessen Lebensgeschichte zuvor uns nichts bekannt ist, die "Reise" nach Hamburg antreten und wurde in das Zwangsarbeiterlager Wilhelm-Raabe-Weg 23 eingewiesen. In diesem Lager für "Westarbeiter" lebten damals u. a. 64 Niederländer, ungefähr 40 italienische Militärinternierte, 20 Franzosen sowie zwei Belgier. Es wurde ebenso wie drei weitere Hamburger Zwangsarbeiterlager von der Firma Kowahl & Bruns betrieben und verwaltet. Theo Massuger berichtete, dass er in diesem Lager erstmals auf Jan Woudstra traf. Dieser arbeitete im Gegensatz zu den meisten seiner Landsleute im Lager nicht bei Röntgenmüller, sondern in der Schlosserei Otto Höhne, die sich mit zwei weiteren Höhne-Firmen am Fuhlsbütteler Damm 103–107 befand. In dem Metallbetrieb produzierten ungefähr 20 Arbeiter Ketten- und Verbindungsglieder für das Hanseatische Kettenwerk in Langenhorn. Für diesen Rüstungsbetrieb wurden auch Entgrat- und Schweißarbeiten ausgeführt. Seit Ende 1943 arbeiteten jeweils sechs bis acht Russen bei Otto Höhne, die morgens von SS-Männern in den Betrieb gebracht und abends von ihnen wieder abgeholt wurden. Außerdem beschäftigte der Schlossereibetrieb neben Woudstra fünf weitere Holländer; die allerdings offenbar nicht im Lager Wilhelm-Raabe-Weg 23 lebten. Über die Arbeitsbedingungen dieser Männer liegen keinerlei Informationen vor.

Über die Lebensbedingungen im Lager Wilhelm-Raabe-Weg liegen hingegen mehr Informationen vor, u. a. auf der Basis von zwei ausführlichen Interviews mit zwei Lagerkollegen von Jan Woudstra, Johan de Groot und Theo Massuger, und Auskünften von vier weiteren niederländischen Zwangsarbeitern, die im September 2000 ihr ehemaliges Lager besuchten: Die kaum isolierten Holzbaracken konnten nur schlecht beheizt werden. Dezentrale kleine Kanonenöfen in den einzelnen Segmenten der Baracken hatten eine viel zu geringe Heizleistung. Hinzu kam, dass es an Heizmaterial mangelte und die Zwangsarbeiter in ihrer Not teilweise sogar Bretter ihrer Doppelstockbetten verheizen mussten. Im Herbst und Winter war es in den engen "Stuben" fast immer sehr feucht und kalt. Um sich bei der Kälte gegenseitig zu wärmen, schliefen die Arbeiter oft in Straßenkleidung zu zweit in den engen Betten. Strohsäcke als Matratzenersatz und alte Decken, die nicht gelüftet und desinfiziert wurden, begünstigten Ungezieferbefall und Infektionskrankheiten.

Verschlimmert wurde die Situation noch durch die katastrophale Ernährungslage im Lager, die sich mit fortschreitender Kriegsdauer stetig verschlechterte. Rechtlich hatten Zwangsarbeiter, die aus Westeuropa kamen, Anspruch auf die Verpflegung eines vergleichbaren deutschen Arbeiters und auf Lebensmittelkarten. In der Realität erhielt die Mehrheit der Westarbeiter in Hamburg diese aber nicht, sondern wurde auf der Grundlage von Sammelbezugscheinen verpflegt. Diese Regelung galt auch für die Zwangsarbeiter im Wilhelm-Raabe-Weg. So entstand eine kaum kontrollierbare Zuteilungspraxis, die von den Großküchen, die die Lager mit Mahlzeiten und Lebensmitteln belieferten, zu Manipulationen im großen Stil ausgenutzt wurde. Sie unterschlugen häufig Lebensmittel, die ihnen zur Versorgung von Zwangsarbeitern zugeteilt worden waren. Offensichtlich wurde diese Praxis auch von der Großküche des Hanseatischen Kettenwerks in Langenhorn, die das Lager belieferte, praktiziert. Es gab lediglich abends nach der Arbeit eine warme Mahlzeit, die meist aus einer Rüben- oder Kohlsuppe, manchmal auch aus Pellkartoffeln bestand. Als Frühstück und Mittagessen bekam jeder Arbeiter alle vier Tage ein Brot von ca. 800 Gramm und etwas Aufstrich. Diese Zuteilungspraxis und der große Hunger führten dazu, dass das Brot häufig nach zwei Tagen aufgegessen war und die Arbeiter dann zwei Tage lang bis auf die "warme Mahlzeit" keinerlei Nahrung bekamen. Während einige Großbetriebe sich um eine zumindest den Vorgaben entsprechende Verpflegung "ihrer" Zwangsarbeiter bemühten oder für Zusatzrationen einsetzten, kümmerte sich die Firma Röntgenmüller überhaupt nicht um eine Verbesserung der Verpflegung ihrer Arbeiter, sondern überließ die Verantwortung dafür der Leitung des Arbeiterlagers. Jan Woudstra hatte allerdings Glück, denn er bekam bei Höhne mittags eine reguläre Mahlzeit. Durch die Kürzung der Kartoffelration um 50 % im Februar 1944 verschlechterte sich die Ernährungssituation noch einmal drastisch, da Kartoffeln den Hauptbestandteil der Verpflegung ausmachten. Gegen Ende des Krieges war so ein Überleben nur durch die Solidarität deutscher Kollegen, die Unterstützung von Verwandten oder Zwangsarbeiterkameraden und das "Organisieren" von Lebensmitteln möglich.

Die schlechte Ernährung und die harte körperliche Arbeit bei einer 60-Stunden-Woche führten bei vielen Zwangsarbeitern zur Entkräftung und Anfälligkeit für Krankheiten. So erkrankte auch Jan Woudstra, der sehr groß war, im September 1944 an Tuberkulose. Am 6. September wurde er daraufhin vermutlich auf Initiative des Lagerleiters Fritz Kowahl in das Krankenhaus Alsterdorf eingeliefert. Nach einiger Zeit, das genaue Entlassungsdatum ist nicht zweifelsfrei zu ermitteln, kehrte er wieder in das Lager zurück. Er war allerdings noch derartig geschwächt, dass er nicht aufstehen und arbeiten konnte. Da sich sein Gesundheitszustand nicht besserte, bat Woudstra Fritz Kowahl, einen Arzt herbeizurufen. Der Lagerführer verständigte daraufhin den Betriebssanitäter der Firma Röntgenmüller, Martin Giese, der auch für die medizinische Betreuung der Lagerbewohner, die nicht bei Röntgenmüller arbeiteten, zuständig war. Giese kam ins Lager und behauptete, dass Woudstra "ein fauler Holländer" sei, nicht arbeiten wolle und folglich keinen Arzt benötige. Nachdem sich der Zustand des Erkrankten dramatisch verschlechtert hatte, holte Fritz Kowahl auf eigene Initiative einen Arzt zur Hilfe, der den jungen Zwangsarbeiter am 22. September 1944 in die Staatskrankenanstalt Langenhorn einwies. Die Hilfe kam jedoch zu spät. Jan Woudstra starb einen Monat später, am 23. Oktober 1944, an Miliartuberkulose [schwerste Form der Tuberkulose, bei der die Tuberkulosebakterien über den Blut- oder Lymphweg über ganze Organe oder den ganzen Körper gestreut sind, M. L.]. Er wurde auf dem Friedhof Ohlsdorf beerdigt. Da die Krankenakten nicht mehr existieren, ist über das Schicksal des jungen Niederländers während der letzten Wochen vor seinem Lebensende nichts bekannt. Kurz nach seinem Tode brachte eine holländische Krankenschwester, die im Krankenhaus Langenhorn arbeitete, Woudstras persönlichen Nachlass zur Schlosserei und übergab ihn der Buchhalterin Magda Gebhardt zur Verwahrung.

Der Tod des jungen Mannes empörte seine Lagerkameraden zutiefst. Sie informierten auch einige antifaschistisch eingestellte deutsche Kollegen bei Röntgenmüller, denen sie vertrauen konnten, über das traurige Ereignis. Kurz nach der Befreiung Hamburgs erstatteten die niederländischen Zwangsarbeiter bei der Hamburger Polizei Anzeige gegen Martin Giese. Der Betriebsausschuss bei Röntgenmüller setzte wenige Wochen nach der Besetzung der Stadt durch die Engländer die Entlassung Gieses bei der Firmenleitung durch. Bereits im Oktober 1945 lagen dem Betriebsausschuss verlässliche Informationen vor, dass Giese sich um eine Beschäftigung als Krankenpfleger in der Krankenanstalt Friedrichsberg bemüht hatte. Dieses Vorhaben war aber von der Belegschaft abgelehnt worden. Danach hatte er sich unverfroren um eine Stelle in der Zentralbetreuungsstelle für ehemalige KZ-Häftlinge bemüht. Diese Informationen gelangten auch nach Holland und riefen bei den ehemaligen Lagerkameraden Woudstras Enttäuschung und Empörung hervor. Sie wandten sich mit einer Erklärung an den inzwischen gegründeten betrieblichen Denazifizierungsausschuss bei Röntgenmüller. In der detailreichen Erklärung vom 10. August 1946 listeten sie sämtliche von Giese gegenüber niederländischen Zwangsarbeitern und russischen Zwangsarbeiterinnen begangenen Straftaten auf und verlangten seine Entlassung aus dem öffentlichen Dienst. Dieses Schriftstück belegt eindrucksvoll, dass Gieses Verhalten gegenüber dem schwerkranken Jan Woudstra kein Einzelfall war, sondern Ausdruck von Gieses menschenverachtender Einstellung besonders gegenüber den niederländischen Zwangsarbeitern. Einige seiner hier aufgelisteten Untaten hätten ebenso wie bei Woudstra leicht zum Tode der Betroffenen führen können. So verweigerte er den Arbeitern Theo Massuger und Willy van Oudenhouven, die durch die Arbeit in groben Holzschuhen offene Füße und eine Blutvergiftung bekommen hatten, die Ausstellung eines Krankenscheins und somit die dringend notwendige ärztliche Hilfe. Erst in einem lebensbedrohlichen Zustand ließ er die beiden Männer in das Krankenhaus Langenhorn einweisen. Die Erklärung der 64 Zwangsarbeiter wurde durch den Denazifizierungsausschuss an den Betriebsrat der Hamburger Sozialverwaltung und das Komitee ehemaliger politischer Gefangener weitergeleitet. Das schleppende Vorgehen der Hamburger Behörden im Fall Giese und seine Beschäftigung im öffentlichen Dienst ließen nun auch holländische Behörden aktiv werden. Ein niederländischer Verbindungsoffizier, der zugleich Angestellter des Philips-Konzerns war, erschien in Hamburg und informierte den britischen Besatzungsoffizier Major Kingsleigh über den Fall Giese. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten, kurz darauf nahm die britische Militärpolizei Martin Giese fest. Bei ihrer Aufklärungsarbeit über den Tod des jungen Holländers tauchte sie auch in der Schlosserei Höhne auf, um nähere Informationen zu erhalten und Woudstras persönlichen Nachlass und seine letzte Lohntüte abzuholen.

Der engagierten und hartnäckigen Arbeit des betrieblichen Entnazifizierungsausschusses unter Leitung von Emil Heitmann (1912–1995) ist es nicht nur zu verdanken, dass Menschen wie Giese überführt werden konnten, sondern auch, dass das Schicksal Jan Woudstras, das stellvertretend für viele ähnliche Schicksale steht, weitgehend aufgeklärt werden konnte. Leider erfolgten daraus keine angemessenen rechtlichen Konsequenzen. Im Gegenteil: Am 25. Juni 1948 wurde Martin Giese mit der Einstufung "Politisch völlig unbelastet" aus dem Internierungslager entlassen. Ein Jahr später entfielen auch jegliche Berufsbeschränkungen für ihn.

Jan Woudstra wurde 1949 auf das neu eingeweihte Ehrenfeld der Oorlogsgravenstichting (OGS) in Loenen umgebettet. Eine schlichte Grabplatte auf dem Grab 307 erinnert dort an ihn. Dieser Kriegsopferfriedhof befindet sich zwischen den Städten Apeldoorn und Arnheim.

Als in den 1980er Jahren das in Deutschland lange verschwiegene und verdrängte Thema Zwangsarbeit wieder verstärkt thematisiert wurde, nutzte Emil Heitmann diese Gelegenheit. Er wurde Mitbegründer der Willi-Bredel-Gesellschaft, Geschichtswerkstatt e. V. in Fuhlsbüttel und motivierte viele jüngere Mitglieder, sich mit dieser Problematik zu befassen. Auf seinen Stadtteilrundgängen erinnerte er auch immer wieder an das tragische Schicksal des jungen Niederländers. Kurz vor seinem Tode vermachte Emil Heitmann der Willi-Bredel-Gesellschaft einen Teil der Akten des betrieblichen Denazifizierungsausschusses, die u. a. wichtige Informationen über Martin Giese und seine Opfer enthalten. So ermöglichte er, dass folgende Generationen weiterforschen konnten und der "unbekannten Zwangsarbeiter" Jan Woudstra nicht in Vergessenheit geriet.

Seit dem 24. Februar 2009 erinnert ein Stolperstein auf der Einfahrt in das ehemalige Zwangsarbeiterlager an den jungen Rotterdamer, dem in Hamburg nicht nur ein Teil seiner Jugend, sondern das ganze Leben genommen wurde. Die Baracke, in der Jan Woudstra in Hamburg leben musste, steht nicht mehr. In der letzten noch erhaltenen Wohnbaracke des Lagers informiert im ehemaligen Büro des Lagerleiters aber eine Bild-Text-Tafel "Misshandlungen, unterlassene Hilfeleistungen und Tod" u. a. über ihn. Seit Februar 2018 existiert am Lagertor – in unmittelbarer Nähe des Stolpersteins – auch eine Informations- und Gedenktafel.

Stand: Januar 2023
© Hans-Kai Möller

Quellen: Archiv Friedhofsverwaltung Ohlsdorf, Beerdigungsregister, 1944; Archiv Ursel Hochmuth, Sammlung: Fa C. H. F. Müller/Kriegsjahre; Archiv Willi-Bredel-Gesellschaft, Geschichtswerkstatt e. V. (WBG), Bestand C. H. F. Müller, Entnazifizierungsausschuss, 1945–1948; Archiv WBG, Gedächtnisprotokoll eines Interviews von Klaus Struck mit Magda Gebhardt, kfm. Angestellte bei der Firma Otto Höhne, am 1.3.2017; Archiv WBG, Interview von Heiko Humburg, Hans-Kai Möller und Holger Schultze mit dem ehemaligen Zwangsarbeiter Theo Massuger am 1.5.2004; Archiv WBG, Interview von Heiko Humburg und Holger Schultze mit dem ehemaligen Zwangsarbeiter Johan de Groot am 3.4.2005; VVN Hamburg, Archiv, Bestand Komitee ehemaliger politischer Gefangener G9/19; StaH, Architekt Konstanty Gutschow, B 90, Unterbringung ausländischer Arbeitskräfte, 1941–1943; StaH, 221-11, Staatskommissar für Entnazifizierung und Kategorisierung, F (P) 402, Giese, Martin, geb. 6.11.1892; StaH, 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn, 184 Band 2, S.88; ITS Archives, Bad Arolsen, Copy of Krankenhausliste Krankenhaus Alsterdorf 70646163#1 (2.1.2.1/0377-0568/0487/0044); Uwe Leps: Das vergessene Lager. Zwangsarbeit im Schatten des Hamburger Flughafens 1943–1945, hrsg. von der Willi-Bredel-Gesellschaft, Geschichtswerkstatt e. V., Hamburg 2018, S. 48–50; Friederike Littmann: Ausländische Zwangsarbeiter in der Hamburger Kriegswirtschaft 1939–1945 (Forum Zeitgeschichte, Bd. 16), Red.: Joachim Szodrzynski, Hamburg 2006, S. 174–182, 250, 427–477; Friederike Littmann: Zwangsarbeiter in der Kriegswirtschaft, in: Hamburg im "Dritten Reich", hrsg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Göttingen 2005, S. 241–244; Hans-Kai Möller: Ausgebeutet und vergessen: Ausländische Zwangsarbeiter in Fuhlsbüttel und Ohlsdorf, in: Willi-Bredel-Gesellschaft, Geschichtswerkstatt e. V. (Hrsg.): Fuhlsbüttel unterm Hakenkreuz, Hamburg 1996, S. 83–107; Martin Weinmann (Hrsg.): Das nationalsozialistische Lagersystem (CCP), 2. Aufl., Frankfurt am Main 1990, S. 87; Jan Woudstra 1921–1944, https://oorlogsgravenstichting.nl/persoon/174898/jan-woudstra, eingesehen am: 18.2.2022.

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