Rede von Frau Prof. Dr. Miriam Gillis-Carlebach, Israel


anlässlich der Verlegung des 1000sten Stolpersteins für Opfer des Nazi-Terrors in Hamburg vor dem Hamburger Rathaus

Der Stein in der Bibel und der Stein als Gleichnis

269 Mal wird der Stein in der Bibel in verschiedenen Zusammenhängen erwähnt, wie hier, in wenigen ausgewählten Zitaten:

· Sein Herz ist gegossen so hart wie Stein (Hiob 41,16);
· Damit dein Fuß nicht am Stein stolpere (Psalm 91,12);
· Der da spricht zum Stein: Stehe auf (Habakuk 2, 19);
· Der Stein, den die Bauleute verachteten, wird zum Hauptpfeiler werden (Psalm 118, 22).

Viele Male ist der Stein stumm, regungs- und erregungslos, wie auch ein menschliches Herz einem Stein gleich gefühllos und hart sein kann - aber umgekehrt kann der härteste Stein des Menschen Unglück nachfühlen, und weinen und schreien wie der Mensch in seiner Qual.

Wenn der Stein Zeuge wird von Untaten an dem zu Tode gefolterten unschuldigen Menschen, übernimmt er die Aufgabe des Anklägers: Er schreit das Verbrechen von der Mauer (nach Habakuk 2, 11), auf dass es nicht vergessen werde. So werden Steine zu Denkmälern gestaltet, als Rufer, als Mahner und Erinnerer an des Menschen Schicksal.

Die Aufgabe der Denkmäler-Steine ist es also, den Menschen zum Denken anzuregen: zum Gedenken - zum Andenken - zum Nachdenken - ihn dazu zu bringen, ja, ihn direkt dazu zu zwingen, zu sinnen und nachzusinnen.
Steine können verschiedenartig gestaltet sein, je nach ihren Aufgaben. Da sind einmal die monumentalen steinernen Riesen-Denkmäler: Sie erinnern an die großen Geschehnisse der Historie, der Geschichte; sie erinnern an anonyme Massen gefolterter Menschen - zusammengefasst in einer Figur oder zu einem Block; denn so fragte man: Können denn die Schicksale von Hunderten und Tausenden unterschiedlich betrachtet werden? Und können denn Millionen Menschen bei Namen genannt werden? Sollten sie nicht besser in Kürze auf eine wissenschaftliche Formel gebracht werden - ohne persönliche Qual, ohne krampfhaften Schmerz, ohne detailliertes Gewissen, sondern eben als "Geschichtsereignis". Wenn man jedoch weiter fragt: woraus besteht denn eigentlich Geschichte? Zitiert nach Professor Jehuda Bauer, Direktor der israelischen Gedenkstätte "Yad Vashem" in Jerusalem, heißt es:
"Geschichten machen Geschichte", kleine alltägliche Geschichten über und von Menschen wie du und ich, von und über jeden Menschen - ob zahnloser Greis oder Kleinkind. Jeder einzelne Mensch, seine Freude und sein Leid, sein Schicksal sollte unvergessen bleiben. Unvergessen — aber wie? Hier dient uns der Stein als Gleichnis.

Rabbi Akiba, einer der berühmtesten talmudischen Lehrer, war ein Analphabet bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr. Er konnte nicht einmal das Alef, den ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets lesen, der gleichzeitig der erste Buchstabe seines eigenen Namens ist, und bis seine Frau ihm sagte: Geh und lerne.
Und er fragte sich: Kann ich in meinem fortgeschrittenen Alter, mit vierzig Jahren, noch lernen? Mein Kopf, mein Hirn, mein Herz sind erhärtet, sind hart wie Stein. Eines Tages kam er an einem Brunnen vorbei, aus dem langsam jedes Mal ein Tröpfchen Wasser auf einen Stein tropfte, langsam und regelmäßig — jedes Mal nur ein einziges Tröpfchen. Und in dem Stein war eine kleine ausgehöhlte Rundung zu sehen, die sich im Laufe der Zeit durch die langsamen, gleichförmigen Tröpfchen gebildet hafte. Rabbi Akiba staunte: Ein Tröpfchen und noch ein Tröpfchen sind stärker als der härteste Stein - und er fragte sich: Ist denn mein Herz härter als der Stein?

Und er ging in das Lehrstübchen, den Cheder, zusammen mit seinem kleinen Sohn, und jeder hielt die Tafel auf einer Seite und er lernte erst das Alef und dann das Bet, bis er die ganze Lehre erlernte und verstand und tausende Schüler ihm folgten.
Es ist ein Gleichnis aus dem alten hebräischen Legendenbuch "Die Väter des Rabbi Nathan", Kap. 6, Paragr. 2, das ich Ihnen brachte.
Als Gunter Demnig die erste kleine Messingtafel in die Pflastersteine einer langen Straße einmontierte, fragte man sich: Kann denn dieses winzige Täfelchen etwas sagen über die Sechs-Millionen Juden, die ermordet wurden, und darunter die ungezählten jüdischen Kinder? Es ist doch nur ein kleines Täfelchen, nicht immer sichtbar, oft von Staub und Schnee verdeckt, was kann das schon bedeuten? Kann es sich anmaßen, die nicht immer gewollte Erinnerung zu erwecken, kann es ein Bindeglied werden zwischen dem schmerzvollen Geschehen der grausamen Vergangenheit und der Reue, der Annäherung, der bewussten Erinnerung?
Es ist wie in dem Gleichnis der einzelnen Tröpfchen, die allmählich den harten Stein umformten.

Heute wird vor dem Hamburger Rathaus der tausendste Stolperstein gelegt; es ist ein einziges winziges Täfelchen. Wer dachte vor drei Jahren bei dem ersten Täfelchen an deren beharrliche Bedeutung, an die tausend und abertausend einzelnen Menschen, an die einsamen Seelen, derer jetzt bescheiden, aber würdig gedacht wird. Es ist der Sieg des Kleinen über das scheinbar unbesiegbare Riesen-Dimensionale.

Wir danken Gunter Demnig, dem Unermüdlichen, für die kraftvollen Tropfen, mit denen er viele, bisher gleichgültige - steinerne - Herzen umgeformt hat; wir danken ihm für jedes kleine Messingtäfelchen, die wie die kraftvollen Tropfen unseren versteinernden, millionenfachen Schmerz nun individuell, persönlich und menschlich erleben lassen...

Wie Rabbi Akiba, angeregt durch das scheinbar unscheinbare Wassertröpfchen, sein Denken und sein Herz öffnete, bis er die ganze heilige Lehre verstand und tausend Schülergefolgschaften hatte, so hat Gunter Demnig mit dem ersten Stolperstein überall und jetzt hier in Hamburg tausende Herzen erweicht und geöffnet zum Mitgefühl des Schicksals eines jedes einzelnen Menschen, der gequält, vertrieben und ermordet wurde.

Zu dieser Stunde wird nun Max Mendel bei Namen genannt; es wird an ihn erinnert und seiner gedacht — in Würde und Liebe.
Wir danken Ihnen, Gunter Demnig; Ihnen, Herr Ole von Beust, Bürgermeister dieser Stadt, Ihnen, Herr Wilfried Weinke und allen hier Anwesenden - Dank für das Mitdenken und das Mitgedenken.

Miriam Gillis-Carlebach,
Hamburg, am 29. März 2005


Anmerkung: Miriam Gillis-Carlebach (Jg. 1922) ist eines von neun Kindern des letzten Hamburger Oberrabbiners Joseph Carlebach und seiner Frau Lotte, geb. Preuss. Miriam Carlebach emigrierte 1938 nach Palästina. Das Ehepaar Carlebach und die jüngsten 4 Kinder wurden am 6. Dezember 1941 nach Riga deportiert. Von ihnen überlebte nur der Sohn Salomon die Shoah. Die Töchter Ruth, Noemi und Sara wurden mit ihren Eltern am 26. März 1942 in einem Wald bei Riga ermordet.

Miriam Gillis-Carlebach lebt in Israel und ist Direktorin des ‚Joseph Carlebach Instituts’ an der Bar-Ilan Universität in Ramat-Gan.


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