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Emmy Rothgiesser * 1900

Graumannsweg 48 (Hamburg-Nord, Hohenfelde)


HIER WOHNTE
EMMY ROTHGIESSER
JG. 1900
DEPORTIERT 1941
LODZ
SCHICKSAL UNBEKANNT

Emmy Clara Rothgiesser, geb. am 5.5.1900 in Hamburg, deportiert am 25.10.1941 von Hamburg in das Getto Lodz, dort ermordet am 1. Mai 1942

Graumannsweg 48

Sie liebte die Kunst und den Tanz und war eine Anhängerin der Anthroposophie. Emmy Rothgiesser hatte gemäß dieser von Rudolf Steiner entwickelten Lehre Malerei und Eurythmie studiert und ihren Lebensunterhalt damit verdient, dass sie Malkurse gab. Sie war mit Abstand das jüngste der fünf Kinder des jüdischen Kaufmanns Alfred Rothgiesser aus Hannover und seiner ebenfalls jüdischen Frau Rosa, geborene Aronstein, aus Elberfeld bei Wuppertal. In Wuppertal hatten Alfred und Rosa auch 1885 geheiratet. Im Jahr darauf kam ihr erstes Kind zur Welt – ein Sohn, den sie Franz Hermann Salomon nannten. Ihm folgten Otto, Bertha Luise und Paul. Als Emmy geboren wurde, war Otto schon 14 und Paul sieben Jahre alt. Bereits 1881, als sie noch nicht verheiratet war, hatte ihre Mutter Rosa zusammen mit ihrer ebenfalls noch ledigen Schwester Henriette am Neuen Wall in Hamburg das Geschäft "H. u. R. Aronstein" gegründet. Sie offerierten Damenwäsche, Morgenröcke und französische Corsetts.

Mit 54 Jahren starb Emmys Vater Alfred im Februar 1909 in Hamburg. Nur ein halbes Jahr später, im August, folgte ihm Rosa. Sie wurde nur 53 Jahre alt. So war Emmy mit neun Jahren Waise und wahrscheinlich kümmerte sich nun vor allem ihre ältere Schwester Bertha um sie. Bertha war zu der Zeit immerhin schon 20 Jahre alt und damit fast volljährig. Sie übernahm auch zusammen mit Otto das Geschäft der Mutter am Neuen Wall. Ihre Tante Henriette war bereits mit ihrer Eheschließung 1892 als Inhaberin ausgestiegen.

Emmy besuchte nach der Grundschule die Höhere Mädchenschule am Lerchenfeld. Als sie 14 Jahre alt, begann der Erste Weltkrieg. Bereits im Jahr darauf kam ihr ältester Bruder Otto als Soldat ums Leben. Er starb mit 27 Jahren in Wilna (heute Vilnius/Litauen). Zwei Jahre später starb auch ihr Bruder Paul im Krieg, an einem unbekannten Ort an der Ostfront. Er wurde nur 23 Jahre alt. Ihr Bruder Franz war noch im März 1914, wenige Monate vor Beginn des Ersten Weltkriegs, nach New York ausgewandert. Er hatte 1906 in Hamburg Abitur gemacht und anschließend an der Berliner Universität Chemie studiert. 1910 war er dort promoviert worden.

Um 1919 machte auch Emmy Abitur und studierte anschließend in Hamburg am Anthroposophischen Seminar. Um ihre Kenntnisse zu vertiefen, verbrachte sie zudem mehrmals einige Wochen in Dornbach in der Schweiz. Dort befand sich seit 1913 das Goetheanum – ein Gebäude, dass unter anderem die ebenfalls von Rudolf Steiner begründete Freie Hochschule für Geisteswissenschaft beherbergte. Im Sinne Rudolf Steiners verstehen sich die Anthroposophen als eine Gemeinschaft von Menschen, die überzeugt davon sind, "dass die Aufgaben, die Gegenwart und Zukunft stellen, nur durch eine spirituelle Vertiefung des Lebens" und durch eine Erforschung des "Geistigen", des Übersinnlichen, gelöst werden könnten. Zu den Bereichen, die die Anthroposophie bis heute beeinflusst, zählen unter anderem die Kunst und die "Bewegungskunst". Als das Tanztheater und das Körperbewusstein Anfang des 20. Jahrhunderts revolutioniert wurden, entwickelten Anthroposophen damit einhergehend die Eurythmie – eine expressionistische Ausdrucksform, bei der Kunst, Sprache und Musik mit dem Körper in Bewegung umgesetzt werden.

Das Anthroposophische Seminar in Hamburg, an dem Emmy Rothgiesser sich ausbilden ließ, gehörte zur Hamburger Anthroposophischen Gesellschaft. Diese hatte sich 1912 gegründet, zu ihren Mitgliedern zählten Kaufleute ebenso wie Künstler. 1919 bezog sie ihre erstes eigenes Gebäude am Holzdamm 34 in St. Georg. Hier fanden jeden Tag Kurse zu den Grundfragen der Geisteswissenschaften statt. Von 1929 an gab Emmy dort auch selbst Malstunden und hielt zudem gelegentlich Vorträge über die Farbenlehre Rudolf Steiners. Neben ihrer Lehrtätigkeit verfasste sie zudem Artikel für die anthroposophische Wochenschrift "Das Goetheanum": 1927 "Von der Farbenlehre am Goetheanum", zwei Jahre später "Der Maler und seine Farben" und noch 1935 "Von der malerischen Technik". Außerdem war sie schriftstellerisch tätig und schrieb anthroposophische Gedichte, Novellen und sogar einen Roman. Davon wurde jedoch nichts veröffentlicht.

Viel verdiente sie mit ihren verschiedenen Tätigkeiten allerdings nicht. Ein ehemaliges Vorstandsmitglied der Hamburger Anthroposophischen Gesellschaft, Julius Solti, erinnerte sich später an ihre prekäre finanzielle Situation: Sie "fristete durch ihren Malunterricht ein recht armes Dasein" und lebte in "sehr dürftigen Verhältnissen". Da sie nicht angestellt war, wurde sie stundenweise bezahlt. Bei einem Honorar von 8 Reichsmark die Stunde für den Malunterricht und 15 Reichsmark die Stunde für die Vorträge kam sie auf maximal 250 Reichsmark brutto im Monat. Eine eigene Wohnung leistete sie sich davon nicht und lebte stets zur Untermiete.

Da die Mitgliederzahl der Hamburger Anthroposophischen Gesellschaft bereits bis 1921 auf über 500 wuchs, wurde das Gebäude am Holzdamm schnell zu klein. Im Frühjahr 1930 konnte die Gesellschaft das größere Haus der jüdischen Bnai-Brith-Loge in der Hartungstraße erwerben, die heutigen Kammerspiele. Einige kleinere jüdische Einrichtungen verblieben als Mieter in dem Gebäude.

Doch die gravierenden politischen Veränderungen in Deutschland nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 betrafen auch die Anthroposophen. Am 1. November 1935 wurde die Anthroposophische Gesellschaft reichsweit verboten. Das entsprechende Dekret Reinhard Heydrichs, zu der Zeit noch Chef des Sicherheitsdienstes beim "Reichsführer SS", lautete: "Nach der geschichtlichen Entwicklung der Anthroposophischen Gesellschaft ist diese international eingestellt und unterhält auch heute noch enge Beziehungen zu ausländischen Freimaurern, Juden und Pazifisten. Die auf der Pädagogik des Gründers Steiner aufgebauten und in den heute noch bestehenden anthroposophischen Schulen angewandten Unterrichtsmethoden verfolgen eine individualistische, nach dem Einzelmenschen ausgerichtete Erziehung, die nichts mit den nationalsozialistischen Erziehungsgrundsätzen gemein hat. Infolge der Gegensätze zwischen den Anschauungen der Anthroposophischen Gesellschaft und den vom Nationalsozialismus vertretenen völkischen Gedanken bestand die Gefahr, dass durch eine weitere Tätigkeit der Anthroposophischen Gesellschaft die Belange des nationalsozialistischen Staates geschädigt werden. Die Organisation ist daher wegen ihres staatsfeindlichen und staatsgefährdenden Charakters aufzulösen."

Damit verschlechterte sich Emmy Rothgiessers Lebenssituation dramatisch. Nicht nur, dass ihr der zentrale Lebensinhalt genommen wurde. Sie verlor damit auch ihre Existenzgrundlage. Es blieben ihr zwar noch einige Schülerinnen und Schüler, die sie von nun an in ihren Wohnungen unterrichtete. Doch auch das hörte bald auf. So wurde sie ab 1936 von ihrer Schwester Bertha, von etwa sieben ehemaligen Schülerinnen und Schülern sowie von einer Freundin unterstützt, der Schneiderin Molly Stark. Diese beschäftigte Emmy Rothgiesser zudem von 1938 an als Haushaltshilfe, für 80 Reichsmark im Monat plus Verpflegung. Als ab dem 1.September 1941 die Jüdinnen und Juden auch im Deutschen Reich den "Judenstern" tragen mussten, beendete Molly Stark das Arbeitsverhältnis. Fast direkt nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten war Emmy in die Hamburger jüdische Gemeinde eingetreten. Vier Jahre später, 1937, erklärte sie jedoch wieder ihren Austritt. Offenbar fühlte sie sich dort nicht am richtigen Ort. 1939 musste sie Mitglied der Reichsvereinigung der Juden werden. Ab 1939 wechselte sie zudem in kurzen Abständen als Untermieterin die Wohnung: Anfang 1939 lebte sie im Graumannsweg 48, von dort zog sie im Herbst an den Uhlenhorster Weg 28, 1940 weiter zum Isekai 15 und anschließend in den Woldsenweg 5.

Am 25. Oktober 1941 wurde Emmy Rothgiesser in das Getto Lodz deportiert. Dort war sie in der Rauchgasse 21 untergebracht. Am 1. Mai 1942 wurde sie von Lodz aus in das Vernichtungslager Chelmno gebracht und wahrscheinlich gleich nach der Ankunft mit Kohlenmonoxid ermordet. Sie war 41 Jahre alt, als sie starb.

Ihre Schwester Bertha wurde am 5. Mai 1943 zusammen mit ihrem 1928 geborenen Sohn Paul aus erster Ehe nach Theresienstadt deportiert. Sie überlebte die Shoah und starb 1969 in Hamburg.

Emmy Rothgiessers Neffe Paul Dieroff wurde am 19. Oktober 1944 von Theresienstadt in das KZ Auschwitz gebracht und acht Tage später weiter in das KZ Dachau. Dort starb er am 15. Dezember 1944. Er war gerade erst 16 Jahre alt geworden (s. "Stolpersteine in Hamburg-Winterhude" und www.stolpersteine.de)

Emmy und Berthas Bruder Franz Rothgiesser hatte nach seiner Auswanderung 1916 in New York Julia D. Bartholomae geheiratet. Er starb am 29. Juni 1995 im Alter von 108 Jahren in Brooklyn, New York.

Stand: Mai 2016
© Frauke Steinhäuser

Quellen: 1; 4; 5; 8; 9; StaH 332-5 Standesämter 2129 u. 3375/1886; StaH 332-5 Standesämter 2173 u. 810/1888; StaH 332-5 Standesämter 2203 u. 4284/1889; StaH 332-5 Standesämter 6331 u. 1635/1893; StaH 351-11 Amt für Wiedergutmachung 23399; StaH 552-1 Jüd. Gemeinden Nr. 992 e 2 Bd. 1, Transport nach Litzmannstadt am 25. Oktober 1941; Ulrike Sparr, Paul Dieroff, in: Stolpersteine in Hamburg, Hamburg, 2011, S. 202ff. u. www.stolpersteine-hamburg.de; Materialien eines Schülerprojekts der Gesamtschule Niendorf zu Paul Dieroff, mit Dank an Ulrike Sparr; Das Goetheanum, Wochenschrift für Anthroposophie, Onlinearchiv: www.alt.dasgoetheanum.ch/37.html (letzter Zugriff 24.3.2015); Emmy Clara Rothgiesser, Lodz Ghetto List, online: http://data.jewishgen.org/wconnect/wc.dll?jg~jgsearch~model2~[lodzghetto]lodzghetto (letzter Zugriff 24.3.2015); Karl Hahn, Rede zum Gedächtnis der gefallenen Lehrer und Schüler der Oberrealschule auf der Uhlenhorst, gehalten am 23. September 1920 in Hamburg-Uhlenhorst anläßlich der Einweihung von Ehrentafeln für die Opfer des 1. Weltkrieges, Namensliste online auf: www.denkmalprojekt.org/dkm_deutschland/hh-uhlenhorst_oberrealschule_wk1.htm (letzter Zugriff 24.3.2015); Preußische Geheime Staatspolizei Berlin, 1. November 1935, Bundesarchiv Koblenz, StAM LR 17 134354, BAD Z/B 1 904, BAK R 43 II/822; Die Geschichte des Rudolf Steiner Hauses Hamburg, online: http://rudolf-steiner-haus.de/historie.html (letzter Zugriff 24.3.2015); Franz Rothgiesser, Social Security Administration, Death Master File, online: www.myheritage.de/research/collection-10002/us-sterbe-verzeichnis-der-sozialversicherung-ssdi?itemId=6449762-&action=showRecord (letzter Zugriff 24.3.2015).
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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