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Stolpersteine in Hamburg
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Bereits verlegte Stolpersteine



Otto Müller * 1907

Isestraße 57 (Eimsbüttel, Harvestehude)

1941 Minsk

Weitere Stolpersteine in Isestraße 57:
Paula Kaczar, Salomon Kaczar, Hertha Müller, Marianne Müller, Sophie Müller, Wilhelm Müller, Kurt Holger Schmahl

Wilhelm Müller, geb. 15.8.1875 in Leer, am 18.11.1941 deportiert nach Minsk
Sophie Müller, geb. Löwenstein, geb. 16.4.1882 in Emden, am 18.11.1941 deportiert nach Minsk
Otto Müller, geb. 25.10.1907, deportiert am 8.11.1941 nach Minsk
Hertha Müller, geb. 30.4.1909, deportiert am 18.11.1941 nach Minsk
Marianne Müller, geb. 15.11.1910, deportiert am 18.11.1941 nach Minsk

Die Deportation muss im Zusammenhang mit der der Familienmitglieder aus der Isestraße 90 gesehen werden:

Ernst Josef Müller, geb. 30.10.1906 in Gelsenkirchen, am 8.11.1941 deportiert nach Minsk
Cäcilie Müller, geb. Ambor, gesch. Becher, geb. 9.4.1919 in Blankenese, am 8.11.1941 deportiert nach Minsk
Denny Müller, geb. 6.3.1941 in Hamburg, am 8.11.1941 deportiert nach Minsk

Wie mag Marianne Müller ihren 31. Geburtstag verbracht haben? Ihre beiden Brüder – der älteste mit seiner Frau und der kleinen Tochter – waren eine Woche zuvor nach Minsk deportiert worden. Ihre Eltern hatten sich mit ihr und ihrer Schwester Hertha "freiwillig" für den nächsten Transport gemeldet, wahrscheinlich in der Hoffnung, die Familie werde im Getto wieder vereint sein.

Der Vater, Wilhelm Müller, stammte aus Gelsenkirchen. Dort besaß er seit 1920 auf dem Schlacht­­hof eine Vieh- und Fleischagentur, verbunden mit einer Großschlachterei. Am 30. April 1933 stellte er den Betrieb auf Anordnung der neuen Machthaber ein und zog sich zu seinem Bruder nach Wilhelmshaven zurück. Noch im selben Jahr siedelte er nach Hamburg in die Isestraße 98 über.

Inzwischen hatte der "arische" Geschäftsführer seiner Firma in Gelsenkirchen die Genehmigung zur Wiedereröffnung des Betriebes bekommen, den er mit Müllers Söhnen Ernst Josef und Otto weiterführen wollte. Als die drei aber Anfang August im Schlachthof ankamen, wurden sie unter Todesdrohungen verjagt, der Geschäftsführer bewusstlos geschlagen. Er berichtete später im "Wiedergutmachungsverfahren", dass die Firma nicht verkauft worden sei, "sie hat einfach aufgehört zu bestehen". Ein Versuch Wilhelm Müllers, in Hamburg noch einmal in seinem Beruf Fuß zu fassen, scheiterte. In der Steuerkartei der Jüdischen Gemeinde ist sein Beruf mit "Rentner" angegeben. In der Tat rettete er wohl so viel von seinem Vermögen, dass er mit seiner Familie davon leben konnte.

Seiner Frau Sophie hatte das Wohngrundstück in Gelsenkirchen gehört. Es wurde für etwa 20000 RM an den Bürgermeister verkauft. Über die Umstände des Verkaufs wissen wir nichts, können aber vermuten, dass er nicht freiwillig erfolgte.

Die Söhne Otto und Ernst Josef versuchten 1939, nach England auszuwandern. Sie wollten dort in ihrem erlernten Beruf als Schlachter arbeiten. Im Juni hatten sie die nötigen Papiere bei­­­sammen, die Liste mit dem Umzugsgut war geprüft, sie durften Berufskleidung und Maschinen, die zur Einrichtung einer Schlachterei nötig waren, mitnehmen. Fußballschuhe, Rähmchen für Fotografien, ein Notgeldalbum und den Gebetsmantel hatte Otto auch dabei. Das Umzugsgut stand in einem zollsicher verschlossenen "Liftvan" zum Transport auf dem Schiffsweg nach London bereit. Aus irgendeinem Grund verzögerte sich die Abreise. Der Zweite Weltkrieg begann. Otto und Ernst Josef Müller war der Weg nach England abgeschnitten.

Im Juli 1939 zog Familie Müller in der Isestraße 57 in eine Wohnung mit dem Vermerk JWH. War es die Wohnung, die das Ehepaar Kaczar nach der Ausweisung nach Polen verlassen musste? Wilhelm Müllers Konto war schon seit 1938 gesperrt, ein monatlicher Verfügungsbetrag festgelegt. Am 14. November 1941 genehmigte die Oberfinanzdirektion einen Sonderbetrag von 550 RM für die beiden Söhne, die sich zu diesem Zeitpunkt schon in Minsk befanden.

Ernst Josef Müller hatte noch vor seiner Deportation Cäcilie Ambor (siehe Isestraße 61 und 90) geheiratet, die aus einer Hamburger Kaufmannsfamilie stammte. Im Betrieb ihres Vaters, Jakob Ambor, war sie bis zur "Arisierung" als kaufmännische Angestellte beschäftigt gewesen. Auch ihr erster Ehemann, Kurt Becher, von dem sie geschieden war, hatte dort gearbeitet. Er ging im November 1938 nach Amsterdam und wurde von Holland aus nach Sobibor deportiert. An ihn erinnert ein "Stolperstein" am Steintorweg 11.

Im März 1941 wurde Cäcilie und Ernst Josef Müller eine Tochter geboren. Sie nannten sie Denny. Sie war acht Monate alt, als sie sich mit ihren Eltern, der Großmutter mütterlicherseits, Josepha Ambor, (siehe Isestraße 61) und ihrem Onkel, Otto Müller, an der Moorweide einfinden musste. Als sie auf den Lastwagen "verladen" werden sollte, fiel sie auf das Straßenpflaster und wurde schwer am Kopf verletzt. Ob die Gestapo-Beamten Gewalt anwandten oder ob es sich um einen Unfall handelte, wissen die Verwandten nicht. Im Zug nach Minsk schrieb Josepha Ambor eine Postkarte, die ihre Schwiegertochter in Hamm erreichte. Der Text ist mündlich überliefert: "Die Fahrt geht nach Osten. Es ist bitter­kalt. Denny blutet aus Mund und Nase." Wahrscheinlich überlebte die kleine Denny nicht einmal die Zugfahrt.

Diese war nur der Anfang des Leidens. Das Grauen, das die Deportierten in Minsk erwartete, übertraf jede Vorstellung. Für die Ankömmlinge aus dem "Reich" war in dem großen Getto, in dem sich schon über 40000 Juden aus den von Deutschen besetzten Gebieten befanden, ein "Sondergetto" geschaffen worden: Mehr als 10000 zumeist russische Gettobewohner waren ermordet worden, um Platz zu schaffen. Die Spuren des Massakers waren noch nicht beseitigt.

Eine russische Zeitzeugin berichtete: "Wir [weißrussischen] Juden hatten uns schon an das Leiden gewöhnt, immerhin waren wir in unserer Heimat. Wir boten unseren [deutschen] Leidensgenossen an, in unseren Getto-Teil zu kommen, sich gemeinsam mit uns an eisernen Öfchen zu wärmen und heißes Wasser zu trinken. Sie aber, erzogen im Geist der deutschen Genauigkeit, befolgten alle Befehle der Faschisten. Wenn etwas verboten ist, dann ist es auch unter allen Umständen verboten. Vom Hunger, von der Kälte, von Angst und von nächtlichen Vernichtungsangriffen der russischen Luftwaffe in tiefste Verzweiflung getrieben, versuchten sie mit allem, was ihnen in die Hände fiel, im Hof Feuer zu entzünden. Damit forderten sie den Tod heraus, um aus dieser leidvollen alptraumartigen Welt zu entfliehen – in der Hoffnung im Jenseits als Märtyrer in Empfang genommen zu werden."

Wilhelm und Sophie Müller mit ihren Töchtern Hertha und Marianne hatten nach Mariannes Geburtstag noch vier Tage bis zu ihrer "Abwanderung", wie es im Behördendeutsch hieß. Dann traten auch sie am 18. November 1941 mit dem zweiten Hamburger Transport nach Minsk ihren Leidensweg an.

Von der gesamten Familie verliert sich mit der Fahrt nach Minsk jede Spur. Wir kennen von niemandem das Todesdatum, wissen nicht, ob sie entkräftet von Hunger und Zwangsarbeit gestorben sind oder ermordet wurden.

© Christa Fladhammer

Quellen: 1; 2; AfW 150875; AfW 160482; mündliche. Auskunft Stéphanie Ambor; Heinz Rosenberg, Jahre des Schreckens: "… und ich blieb übrig, dass ich Dir’s ansage.", Göttingen 1992, S. 20; www.letzter-gruss-online Zugriff 24.1.2009: Ausstellungsprojekt über das Getto Minsk, Berlin 2007.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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Stand: © 19.04.2024 16:34:06